Angst vor GAU im Ukraine-AKW Saporischschja

Das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja – das größte Europas – ist Experten zufolge “extrem anfällig” für eine Kernschmelze. Seit die staatliche ukrainische Atombehörde Energoatom am Montag mitteilte, dass Teile des AKWs “schwer beschädigt” worden seien, wächst die Angst vor einem GAU.

Sollte das Kraftwerk aufgrund einer möglichen Eskalation der Kämpfe in der Region den Zugang zum Stromnetz verlieren, so Shaun Burnie, Atomexperte von Greenpeace Ostasien, würden die Notstromgeneratoren und Batterien nicht ausreichen, um die sechs Reaktorblöcke und die großen Becken für hochradioaktive abgebrannte Brennelemente ausreichend zu kühlen.

“Beim jetzigen Betrieb läuft das Kernkraftwerk Saporischschja Gefahr, die Strahlen- und Brandschutznormen zu verletzen”, heißt es in einer Erklärung, die von der ukrainischen Atombehörde Energoatom in einem Kanal der Messaging-App Telegram veröffentlicht wurde. “Es besteht immer noch das Risiko, dass Wasserstoff austritt und radioaktive Partikel verstreut werden. Auch die Brandgefahr ist hoch.”

Sorge um AKW Saporischschja

Drei Reaktoren abgeschaltet

Am Wochenende waren eine Sauerstoff- und eine Stickstoffstation sowie ein Hilfsgebäude im Kraftwerk unter Beschuss geraten. Bislang wurde kein radioaktives Leck entdeckt. Techniker haben einen der drei in Betrieb befindlichen Reaktoren vorsorglich abgeschaltet.

Am Montag forderte UN-Generalsekretär António Guterres, dass internationalen Inspektoren Zugang zur Anlage in Saporischschja gewährt wird. Russland und die Ukraine hatten sich wegen des Beschusses gegenseitig beschuldigt. “Jeder Angriff auf ein Kernkraftwerk ist selbstmörderisch”, sagte Guterres auf einer Pressekonferenz in Japan.

Rafael Mariano Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) hatte bereits am 29. Juli in einem DW-Interview, die russischen Besatzungstruppen dafür verantwortlich gemacht, alle Sicherheitsmaßnahmen zu verletzen. 

Infografik Karte Kernreaktoren in der Ukraine DE

“Schutzschild” für Angriffe

Rafael Mariano Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) hatte bereits am 29. Juli in einem DW-Interview, die russischen Besatzungstruppen dafür verantwortlich gemacht, alle Sicherheitsmaßnahmen zu verletzen. Den russischen Besatzern wird unter anderem vorgeworfen, Saporischschja als Waffendepot und als “Schutzschild für Angriffe” zu nutzen. US-Außenminister Anthony Blinken sagte auf einer UN-Sitzung über die Nichtverbreitung von Kernwaffen in New York, Russland missbrauche das Atomkraftwerk als “Äquivalent eines menschlichen Schutzschildes”.

Wenn das stimmt, wäre dies ein Verstoß gegen die Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung im Krieg. Diese schreibt eine besondere Sorgfaltspflicht für “Installationen mit Gefahrenpotential” in Kriegsgebieten vor. Berichten zufolge befinden sich derzeit rund 500 russische Soldaten auf dem Gelände des Kraftwerks in Saporischschja.

Als im März die ersten Kämpfe in der Nähe des Kraftwerks begannen, war es das erste Mal im Atomzeitalter, dass in unmittelbarer Nähe eines Atomkraftwerkes Waffen zum Einsatz kamen. Seit russische Streitkräfte das Kraftwerk besetzt haben, hat es nur noch nur noch sporadische Nachrichten aus Saporischschja gegeben. Das ukrainische Personal durfte offenbar weiter arbeiten.

“Lückenhafter Kontakt”

IAEO-Chef Grossi zeigte sich besorgt darüber, dass das ukrainische Personal, das derzeit unter dem Kommando der russischen Besatzer in Saporischschja steht, eventuell nicht in der Lage sei, seine Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen, und Gewaltandrohungen ausgesetzt sein soll. 

Eine helle Stichflamme auf dem Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja in der Ukraine nach einem Angriff

Kameraaufnahmen zeigen einen Angriff auf das AKW Saporischschja

“Ich habe versucht, eine technische Mission unter meiner Leitung zusammenzustellen, die sich vor Ort mit einer Reihe von Problemen befassen soll”, sagte er der DW. Ohne die Begleitung von UN-Friedenstruppen sei der Zugang jedoch nicht möglich, so Grossi, eine Situation, die er mit UN-Generalsekretär António Guterres besprechen wolle.

In einem Interview mit AP, das am Dienstag veröffentlicht wurde, sagte Grossi, die Atomenergiebehörde habe nur “lückenhaften” Kontakt zu den Mitarbeitern vor Ort. Er zeigte sich auch besorgt darüber, dass notwendige Ausrüstungen, darunter Ersatzteile für die Wartung der Reaktoren, aufgrund unterbrochener Lieferketten nicht geliefert würden.

Inspektion in Saporischschja? 

Einem Medienbericht zufolge soll Russland nun aber offenbar bereit sein, eine internationale Inspektion des besetzten Atomkraftwerks Saporischschja zuzulassen. Die Agentur Bloomberg berichtete, der ständige Vertreter Russlands bei der IAEA in Wien habe der UN-Atomenergiebehörde angeboten, eine Untersuchung der Anlage zu ermöglichen.

Shaun Burnie von Greenpeace betonte, dass es sehr wichtig sei, dass geschultes einheimisches Personal weiter sicher in dem Kraftwerk arbeiten könne. Russland habe zwar mehr als doppelt so viele Reaktoren wie die Ukraine, doch die meisten davon seien ältere Modelle. Das bedeute, dass die dortigen Ingenieure nicht über das Fachwissen verfügten, um die neuere Technologie in Saporischschja zu betreiben, erklärte Burnie.

Lokales Personal wird auch im Fall der regelmäßigen stattfindenden Überschwemmungen durch den nahegelegenen Dnjepr-Fluss benötigt. Das Wasser könnte Dämme und die Kühlwasserspeicher für die Reaktoren beschädigen.

Petro Kotin, Chef des staatlichen ukrainischen Kernkraftwerksbetreibers Energoatom, beschuldigte Russland in der vergangenen Woche, bis zu 100 Mitarbeiter aus Saporischschja entführt zu haben. Er forderte die Befreiung des Kernkraftwerkes und erklärte, der russische Präsident Wladimir Putin betreibe “Nuklearterrorismus”.

Bearbeitet von: Jennifer Collins

Dieser Artikel vom 3. August wurde zuletzt am 8. August aktualisiert und aus dem Englischen übersetzt.