Aoun räumt Präsidentenpalast: Libanon schlittert in Machtvakuum

Der scheidende Präsident Michel Aoun sagte vor jubelnden Anhängern in Beirut: “Heute Morgen habe ich das Dekret unterzeichnet, das die Regierung als zurückgetreten betrachtet.” Ohne Staatschef und Regierung droht ein neues Machtvakuum in dem krisengeschüttelten Land, normalerweise übernimmt die Regierung die Aufgaben des Präsidenten, wenn dessen Amt nicht besetzt ist.

Der geschäftsführende Premierminister Nadschib Mikati erklärte derweil nach einem Bericht der Zeitung “Orient le Jour”, seine Regierung werde “weiterhin alle ihre verfassungsmäßigen Funktionen ausüben”, sofern das Parlament keine andere Meinung vertrete. Das Dekret Aouns zum Regierungsrücktritt habe keinen verfassungsrechtlichen Wert. Der Verfassungsrechtler Wissam Laham sagte der Nachrichtenagentur AFP, laut Gesetz bleibe eine zurückgetretene Regierung im Libanon so lange im Amt, bis ein neues Kabinett gebildet sei. Aouns Dekret mache demnach “keinen Sinn”.

Parteien blockieren sich gegenseitig

Der Libanon wird seit der Parlamentswahl im Frühjahr von einer geschäftsführenden Regierung unter Leitung des designierten Ministerpräsidenten Mikati geführt, dem bisher keine Regierungsbildung gelang. Wegen der Uneinigkeit der Abgeordneten sind die bisher vier Versuche zur Wahl eines neuen Präsidenten ebenfalls gescheitert.

Libanon bald ohne Präsident und Regierung | Abschied von Michel Aounnach sechsjähriger Amtszeit

Zahlreiche Anhänger von Michel Aoun nehmen in Beirut Abschied vom Präsidenten

Weder die radikalislamische Hisbollah-Miliz noch ihre Gegner verfügen derzeit über eine klare Mehrheit, um einen Kandidaten für die Nachfolge des Präsidenten zu stellen. Nach dem festgelegten Religionsproporz muss der libanesische Staatspräsident maronitischer Christ sein, der Ministerpräsident Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit.

Anhänger Aouns versammelten sich am Sonntag vor dem Präsidentenpalast sowie vor der privaten Residenz des Politikers im Beiruter Vorort Rabieh, um Aoun zu ehren. Seine sechsjährige Amtszeit war geprägt von der schwersten Wirtschaftskrise des Landes, einem massiven Währungsverfall sowie den verheerenden Explosionen im Hafen von Beirut, bei der im August 2020 mehr als 220 Menschen starben und weite Teile der Stadt zerstört oder beschädigt wurden. Aoun forderte in seiner Abschiedsrede den Angaben zufolge umfassende Reformen, die Beseitigung der Korruption sowie eine Aufarbeitung der Explosionskatastrophe.

Libanon am Abgrund (05.08.2022)

Der Libanon steckt seit 2019 in einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen in der Geschichte des Landes. Die Landeswährung verlor auf dem Schwarzmarkt mehr als 95 Prozent ihres Wertes. Armut und Arbeitslosigkeit haben zuletzt stark zugenommen. Das aktuelle Machtvakuum kommt sehr ungelegen in einer Zeit, in der das Land die meisten Reformen noch nicht umgesetzt hat, die für den Zugang zu dringend benötigten Rettungsgeldern des Internationalen Währungsfonds (IWF) erforderlich sind.

kle/hf (afp, kna, dpa)