Atomenergie in der EU: Wer macht was?

In Deutschland wird vor dem Hintergrund der möglichen Energiekrise im Winter heftig über die letzten drei Kernkraftwerke gestritten, die Ende des Jahres eigentlich vom Netz gehen sollten. Streckbetrieb für drei Monate, Verlängerung der Laufzeiten um Jahre oder gar Wiederanfahren im Rahmen des Atomausstiegs bereits stillgelegter Meiler? Alle Optionen werden diskutiert. In den Nachbarländern versteht man diese Diskussion kaum, denn in 13 der 27 EU-Staaten wird Atomenergie in unterschiedlichem Umfang zur Stromproduktion genutzt. 

Infografik - EU-Staaten mit Atomkraftwerken - DE

Der einzige Aussteiger: Deutschland

Atomkraft, nein danke! Diese Forderung setzte die rot-grüne Bundesregierung 1998 um. Da wurde der Atomausstieg zum ersten Mal beschlossen. 2009 nahm ihn die christdemokratisch geführte Regierung wieder zurück und verlängerte 2010 die Laufzeiten der Meiler. Nach dem verheerenden Atomunfall in Fukushima 2011 kam der Sinneswandel. Bundeskanzlerin Angela Merkel sorgte dafür, dass der Atomausstieg erneut beschlossen wurde. Von 17 Reaktoren wurden bis heute 14 geschlossen. Die drei noch laufenden sollen Ende 2022 vom Netz gehen. Ihre Leistung, im Moment noch sechs Prozent Anteil an der Stromversorgung, sollte vorübergehend durch Gaskraftwerke ersetzt werden, was durch den russischen Krieg nun unmöglich scheint.

Deutschland Kernkraftwerk Biblis

Ehemaliges Kernkraft Biblis in Deutschland: Rückbau seit 2017 im Gange

Ausstieg auf Eis: Belgien

Belgien hat den geplanten Ausstieg auf Eis gelegt, und zwar gleich um zehn Jahre. Im Frühjahr, nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, beschloss die Regierung in Brüssel, den geplanten Ausstieg aus der Kernkraft von 2025 auf 2035 zu verschieben. Zwei der sieben in Betrieb befindlichen Reaktoren dürfen bis dahin weiterlaufen. Im Moment erzeugt Belgien die Hälfte seines Stroms aus Atomenergie. Aus Deutschland kam immer wieder Kritik an den Sicherheitsstandards der Anlagen.

Einsteiger oder Wiedereinsteiger

Polen hat bislang Atomenergie nicht genutzt, will aber einsteigen. Der erste polnische Reaktor soll bis 2033 entstehen. Um Anteile an dem Projekt bewerben sich Firmen aus den USA, Südkorea und Frankreich. Eine ursprünglich geplante Zusammenarbeit mit dem benachbarten Litauen wurde aufgegeben. Die polnische Regierung hält Kernenergie für umweltfreundlich und möchte Kohlendioxid-Emissionen aus der Kohleverbrennung einsparen.

Aktion gegen einen Atomkraftwerk-Neubau in Polen

Protest gegen polnisches AKW von deutschen und polnischen Grünen auf der Oder

Litauen nutzte bis 2009 Atomkraft im alten sowjetischen Reaktor Ignalina. Dieser musste auf Druck der Europäischen Union wegen Sicherheitsbedenken geschlossen werden. Der Bau des eines neuen Kraftwerkes mit Namen Visagina wurde 2016 nach einem negativen Referendum gestoppt. Die Regierung plant aber wegen der Abkopplung von russischen Energielieferungen weiterhin, neue Atomkraftwerke zu bauen.

Niederlande: Der im Jahr 2021 beschlossene Ausstieg aus der Kernkraft wurde aufgegeben. Stattdessen plädiert die Regierung dafür, zwei neue Meiler zu errichten. Bislang läuft nur einer, der rund drei Prozent des niederländischen Strombedarfs deckt.

Schweden: Sechs aktive Atomkraftwerke produzieren 40 Prozent des Stroms. Bereits 1980 hatte Schweden den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie beschlossen, sobald eine wirtschaftliche Nutzung der bestehenden Meiler nicht mehr gegeben sei. 2010 jedoch wurde der Beschluss zum Ausstieg aufgehoben. Bis zu zehn Reaktoren dürften betrieben werden. Vier ältere Anlagen wurde jedoch vom Netz genommen. Im Prinzip hat sich die Regierung dafür ausgesprochen, den Anteil der Kernenergie am Energiemix zu verringern, ohne jedoch ein konkretes Datum zu nennen.

Paris Rede Macron zu Atomkraftwerken

Spitzenreiter: Frankreichs Präsident Macron will die Kernenergie massiv ausbauen

Ausbau im Gange

Atomkraft, ja bitte! In Frankreich gibt es kaum Zweifel am Nutzen der Kernenergie. 56 Reaktoren, von denen zurzeit viele gewartet werden, erzeugen bis zu 70 Prozent des Stroms, den die Franzosen auch zum Heizen verbrauchen. Frankreich als größter Stromexporteur in Europa liefert seinen Atomstrom auch nach Großbritannien und Italien. Zurzeit wird ein neuer Reaktor errichtet. Sechs weitere sollen gebaut werden. Optionen für acht zusätzliche Meiler, die alte Kraftwerke ersetzen sollen, liegen auf dem Tisch. Ursprünglich hatte die französische Regierung geplant, den Anteil der Atomenergie auf 50 Prozent bis 2025 zu senken. Doch dieser Plan wurde schon 2019 um zehn Jahre verschoben.

Finnland: Auch die Finnen bauen ihren Atomstrom aus. Fünf Reaktoren laufen, ein sechster wird bis Ende des Jahres endgültig ans Netz gehen. Dann kommen 60 Prozent des finnischen Stroms aus Kernbrennstäben. Für den Neubau eines weiteren Kraftwerkes in Hanhikivi war ursprünglich die russische Firma “Rosatom” vorgesehen. Doch der Vertrag wurden von den Finnen nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine gekündigt. In Finnland wird weltweit zum ersten Mal ein atomares Endlager gebaut, in das Atommüll – allerdings nur aus Finnland – für Jahrtausende gelagert werden soll.

Finnland Olkiluoto Atomkraftwerk

Das neue finnische Kraftwerke Olkiluoto-3 geht nach vielen Verzögerung 2022 ans Netz

Ungarn setzt nicht nur beim Gas, sondern auch bei Atomenergie voll auf Russland und macht sich damit in der EU keine Freunde. Die zwei neuen Atomkraftwerke, zusätzlich zu den vier laufenden Meilern, soll die russische Atomfirma “Rosatom” errichten. Der Bau soll im September in die erste Phase gehen. Der ungarische Außenminister Peter Szijjártó war im Juli in Moskau, um das Geschäft noch einmal zu besiegeln. Ungarn will mit den neuen Meilern den Anteil von Kernenergie an der Stromerzeugung von 50 auf 60 Prozent steigern.

Stabiler Betrieb, vage Ausbaupläne

Bulgarien: Zwei Reaktoren produzieren im Moment 30 Prozent des Strombedarfs. Bulgarien plant, die Kernenergie weiter auszubauen. Der Bau eines Reaktors in Belene durch russische Firmen wurde im Frühjahr abgesagt. Bulgarien setzt jetzt eher auf kleinere Reaktoren, die dezentral eingesetzt werden könnten.

Tschechien steht der Kernkraft positiv gegenüber. Das östliche Nachbarland Deutschlands erzeugt mit sechs Meilern rund 30 Prozent der elektrischen Energie. Bis 2040 ist ein weiterer Ausbau geplant, um den Ausstoß von Kohlendioxid aus Gas- und Kohlekraftwerken zu reduzieren.

Rumänien: Zwei Atomkraftwerke sind in Betrieb. Die Nutzung der Kernenergie soll nach dem Willen der Regierung ausgebaut werden. Sehr konkret sind die Pläne allerdings noch nicht. Derzeit stammen 15 bis 20 Prozent des Stroms in Rumänien aus AKWs.

Japan Tepco Kernkraftwerk Fukushima Daiichi

Aufräumarbeiten in Japan: Der nukleare Gau in Fukushima führte nur in Deutschland zu einem Umdenken (Archiv 2013)

Slowakei: Vier Reaktoren decken rund die Hälfte des Stromverbrauchs ab. Für die Nutzung der Atomkraft gibt es eine breite Unterstützung in der Regierung. Die Brennstäbe, die aus Russland geliefert werden, sollen irgendwann durch eigenen Uran-Abbau ersetzt werden. Die Slowakei plant auch eine Aufbereitungsanlage für abgenutzte Brennstäbe, aber kein Endlager für Atommüll, sondern nur ein Zwischenlager.

Slowenien betreibt zusammen mit dem Nachbarland Kroatien einen Atommeiler. 36 Prozent des Strombedarfs werden hier erzeugt. Ein Teil der Energie wird nach Kroatien exportiert. Über den Bau eines zweiten Reaktors wird nachgedacht. Die Errichtung eines Zwischenlagers für Atomabfälle ist in der Nähe des Reaktors geplant.

Spanien: Rund ein Viertel des Stroms in Spanien kommt aus sieben Atomkraftwerken. Der weitere Kurs hängt von den jeweiligen Regierung ab. Sozialistische Regierungen tendierten in der Vergangenheit eher zu einer Einschränkung der Nutzung. Konservative setzten eher auf einen Ausbau. Im Moment sieht die Beschlusslage so aus: kein Neubau, aber Renovierung der bestehenden Anlagen. Die Lizenzen zum Betrieb der Meiler laufen in den Jahren 2027 bis 2035 aus. Drei ältere Meiler wurde in den vergangenen Jahren abgeschaltet. Eine Ausbeutung eigener spanischer Uranvorkommen wird geprüft.

In der Europäischen Union können die Mitgliedsstaaten selbst entscheiden, mit welchem Mix in der Energieerzeugung sie die vorgegebenen Klimaschutzziele bis 2050 erreichen. Die Nutzung der Kernenergie wird als nachhaltig betrachtet. Auf die gesamte EU gerechnet, kommt derzeit 25 Prozent des Stroms aus Atomkraftwerken.