Meinung: Freiheit und Demokratie – nichts für Russland?

Weshalb lassen sich Hunderttausende Russen als Kanonenfutter in einen verbrecherischen Angriffskrieg schicken? Weshalb überlassen sie ihr Schicksal einem Kriegstreiber? Weshalb begehren sie nicht auf? Im Ausland finden die meisten Menschen auf diese Fragen keine Antworten. Die Russen scheinen alles mit sich machen zu lassen. Stereotype über den angeblichen Nationalcharakter werden bedient: Russen seien nun mal duldsam, gehorchten immer dem jeweiligen Zaren im Kreml, hätten Angst vor Freiheit, wie schon Fjodor Dostojewski schrieb.

Richtig ist, dass es derzeit gefährlich ist, aufzubegehren. Wer sich in Russland für den Frieden engagiert, dem drohen Gefängnis und Folter. Mit diesen Konsequenzen müssen allerdings auch die Demonstranten im Iran rechnen. Dennoch gehen dort seit drei Wochen die Menschen landesweit in Massen auf die Straße, protestieren gegen das brutale Regime der Mullahs. Dutzende haben dafür bereits mit ihrem Leben bezahlt. Aber wer den iranischen Polizeikräften entrinnen kann, lässt sich offenbar nicht abschrecken, demonstriert weiter. Dabei sind die Schlächter in Teheran und den anderen Städten des Landes nicht weniger gewalttätig als die Omon-Truppen in Moskau.

Lukaschenko stürzt ohne Putins Schutz

Voller Bewunderung verfolgt die Welt die mutigen Proteste der Iraner. So wie Millionen Menschen überall vor zwei Jahren der Courage der Belarussen Anerkennung zollten, als sie gegen die gefälschten Wahlen von Lukaschenko aufbegehrten; oder die Demonstrationen der Ukrainer, die bereits wiederholt für die Demokratie kämpften. In der Ukraine setzte sich das Volk durch; in Belarus nicht – noch nicht. Doch die Weißrussen werden Lukaschenko vor Gericht zerren, wenn Putin ihn nicht mehr beschützen kann.

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DW-Chefkorrespondent Miodrag Soric

Die Behauptung, Russen taugten nicht für die Demokratie, ist Unfug. Viele berufen sich auf Umfragen. Danach glaubt etwa jeder dritte Russe, die “westliche Demokratie sei für Russland ungeeignet”. Wenn überhaupt, sind es ältere Menschen, die so denken. Sie waren nie längere Zeit im Westen. Die jüngere Generation ist hingegen weltoffen wie ihre Altersgenossen in Paris oder London: Sie wollen Freiheit, echte (und keine gelenkte) Demokratie, Wohlstand, die Möglichkeit zu reisen. 

Unfug ist auch, dass – wie orthodoxe Kirchenfürsten behaupteten – Demokratie angeblich die Moral unterhöhlt. Das Gegenteil stimmt. Nur vom Staat unabhängige Gerichte verschaffen allen Recht – egal wie gut oder schlecht die persönlichen Beziehungen zu Politikern sind. Im heutigen Russland bestimmt aber bei Prozessen gegen Demonstranten der Kreml, wie das Urteil auszusehen hat. Russlands Richter sind Handlanger der Macht. In stabilen Demokratien haben Korruption und Vetternwirtschaft keine Chance.

Das Trauma der 1990er-Jahre

Als weiterer Grund, weshalb viele ältere Russen der Demokratie skeptisch gegenüberstehen, werden die 1990er-Jahre genannt. Was damals die Russen erleiden mussten, hatte jedoch mit Demokratie nichts zu tun. Vielmehr bereicherten sich nach 1991 die alten sowjetischen Eliten – ehemalige Parteifunktionäre und Geheimdienstler – hemmungslos auf Kosten der Allgemeinheit, kontrollierten die Politik mit Bergen von Geld.

Doch dies durchlitten auch Ukrainer oder Georgier in den 1990er-Jahren. In Kiew hatten Oligarchen ebenfalls großen Einfluss. Doch den Ukrainern gelang es, Regierungen zu wählen und abzuwählen. Ihr Lebensstandard wuchs langsam. Das Land entwickelte sich zu einem Modell für Russland und wurde Putin so gefährlich. Plötzlich war klar, Demokratie und Freiheit ist auch bei den Ost-Slawen möglich.

Die Ukrainer werden weiter um ihr Land kämpfen. Sie wollen nicht in einem autoritär geführten Staat leben. Die gewaltigen Opfer, die dieses Volk bringt, schweißen es zusammen. Der Verteidigungskrieg gegen Russland wird sie über Generationen prägen. Wollen auch die Bürger Russlands ein menschenwürdiges Leben in Freiheit und Wohlstand, werden sie ebenfalls dafür kämpfen müssen. Wie andere Völker auch.