Pulverfass und Propaganda: Um was geht es im Norden von Kosovo?

Die Spannungen zwischen Serbien und Kosovo machen wieder Schlagzeilen. Das Epizentrum im Konflikt zwischen der serbischen Minderheit und der albanischen Mehrheit ist der Norden Kosovos. Und darum geht es:

Warum spricht man von Nordkosovo?

Es geht um das Gebiet nördlich des Flusses Ibar in Kosovo. Die vier Kommunen sind fast ausschließlich von Serben bewohnt, die Kosovos Eigenstaatlichkeit nicht akzeptieren. Sie pflegen enge Verbindungen zu Serbien, haben aber zehn garantierte Sitze im kosovarischen Parlament und stellen zwei Minister in der Regierung. Die kosovarische Regierung in Pristina hat seit dem Ende des Kosovo-Kriegs 1999 nie die volle Kontrolle im Norden des Landes gehabt.

Diese Lage macht aus dem Norden, wo rund 60.000 Menschen leben, eine nahezu rechtsfreie Zone, ein Eldorado für Kriminelle und Schmuggler. Die führenden serbischen Politiker dort sind ausnahmslos treue Verbündete des serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic.

Die Serben hegen ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber der Regierung in Pristina. Dieses wird vor allem dadurch verstärkt, dass regelmäßig Sondereinheiten der Polizei in den Norden geschickt werden, oft unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung.

Was ist der aktuelle Anlass des Konflikts?

Erneut sind die Serben im Norden Kosovos auf den Barrikaden – ein schon erprobtes Mittel. Organisiert in Chat-Gruppen sind sie in der Lage, innerhalb von Minuten den Norden lahmzulegen, Straßen und Grenzübergänge zu blockieren. Aktuell aus Protest gegen die Verhaftung eines früheren Polizisten wegen des Verdachts auf “Terrorismus”. Die kosovarische Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, einen Bombenanschlag auf die Räumlichkeiten der Wahlkommission in Nord-Mitrovica verübt zu haben.

Brüssel Josep Borrell trifft sich mit Serbiens Präsident Aleksandar Vucic und dem Premierminister der Republik Kosovo, Albin Kurti

EU-Außenbeauftragter Josep Borrell (li.) mit Serbiens Präsident Aleksandar Vucic (vorne) und dem Premierminister der Republik Kosovo, Albin Kurti (re.), in Brüssel (21.11.2022)

Die Serben wollten die Lokalwahlen im Norden verhindern, die nötig geworden waren, nachdem alle serbischen Amtsträger Anfang November die kosovarischen Institutionen verlassen hatten. Sie zogen sich sowohl aus dem Parlament als auch aus der Regierung zurück. Auch die vier Bürgermeister im Norden des Landes legten ihr Amt nieder. Mehrere hundert serbische Polizisten verließen die kosovarische Polizei, genauso wie serbische Richter, die im Norden Kosovos nicht mehr zu Arbeit gehen.

Der Boykott der kosovarischen Institutionen war eine Reaktion auf das Vorhaben des kosovarischen Premiers Albin Kurti, die von den serbischen Behörden ausgestellten Autokennzeichen in Kosovo zu verbieten und gegen kosovarische auszutauschen. Für Kurti eine prinzipielle Frage der Reziprozität, weil Serbien die kosovarischen Autokennzeichen nicht akzeptiert, für Vucic und die Kosovo-Serben eine Vorbereitung der “ethnischen Säuberung”.

Inzwischen hat Pristina beide Vorhaben verschoben – die Lokalwahlen und die Einführung neuer Kennzeichen, wohl auf Druck der EU und vor allem der USA.

Jetzt verlangt der Westen auch von Serbien, für Entspannung zu sorgen. Doch danach sieht es derzeit nicht aus.

Kann Serbien wirklich Militär entsenden?

Das gilt als unwahrscheinlich. Vucic hatte in den letzten Jahren serbische Truppen mehrmals in “erhöhte Bereitschaft” versetzt und sie bis nahe an die kosovarische Grenze beordert. Für diese Woche hat Belgrad jedoch angekündigt, Polizisten und Soldaten auf kosovarischem Territorium stationieren zu wollen.

Infografik Karte Republik Kosovo mit Pristina und Mitrovica

Diese Möglichkeit ist in der UN-Resolution 1244 von 1999 vorgesehen, die nach einer faktischen Kapitulation Serbiens nach dem Kosovo-Krieg und der NATO-Bombardierung gilt. Laut der Resolution kann Belgrad “einige Hundert” Ordnungskräfte zurück nach Kosovo schicken – aber nur, wenn die internationale Militärmission KFOR dem zustimmt.

Auch Vucic sagt offen, dass sein Vorschlag wohl abgelehnt werde. Analysten in Belgrad deuten deswegen seine Forderung als reine Propaganda. Vucic wolle sich als Vorkämpfer für “das Serbentum” hervorheben, so seine Kritiker. Auch wenn Vucic ernsthaft die militärische Option erwägen sollte, wäre diese wohl aussichtslos, weil sie auch eine direkte Konfrontation mit den in Kosovo stationierten internationalen Polizei- und Militäreinheiten zur Folge hätte.

Ist eine Lösung des Streits in Sicht?

Nicht wirklich, auch wenn der Westen letztlich mehr Druck ausübt. Die Positionen der Seiten sind gefestigt: In Belgrad möchte man “niemals” über die Anerkennung der “völkerrechtswidrigen Abspaltung” verhandeln. In Pristina erwidert man, die Gespräche mit den ehemaligen “serbischen Besatzern” machten nur Sinn, wenn am Ende die Anerkennung folge.

Über hundert Länder erkennen bis heute Kosovo als unabhängigen Staat an, darunter 22 der 27 EU-Mitglieder. Ohne serbische Zustimmung kann Kosovo kein UN-Mitglied werden, denn dort sitzen mit Russland und China zwei serbische Partner als Vetomächte im Sicherheitsrat.

Die Brücke über den Fluss Ibar in Mitrovica

Die Brücke über den Fluss Ibar in der geteilten Stadt Mitrovica

Jetzt soll ein deutsch-französischer Vorstoß Bewegung in die Sache bringen. Bislang hat die Öffentlichkeit nur an die Presse geleakte Auszüge des Plans gesehen. Aber auch Eingeweihte bestätigen, dass der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag von 1972 (zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik) als Grundlage dienen soll: Serbien muss Kosovo nicht explizit anerkennen, soll aber die territoriale Integrität und Souveränität der ehemaligen Südprovinz akzeptieren und ihre Mitgliedschaft in allen internationalen Organisationen nicht aktiv blockieren.

Als Zuckerbrot soll für beide Länder eine “EU-Perspektive” dienen. Allerdings steht eine EU-Erweiterung auf dem Westbalkan bislang in den Sternen. Serbien ist offiziell EU-Kandidatenland, die Verhandlungen sind aber schleppend. Kosovo hat nicht einmal den Kandidatenstatus, möchte diesen jedoch noch 2022 beantragen.

Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf die Kontrahenten aus?

Seit Februar gibt es Befürchtungen, dass Russland seine engen Beziehungen zu Serbien nutzen könnte, um auf dem Balkan eine “Nebenfront” zu eröffnen. Diese Karte spielt auch der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti: Analog zu Russland träume man in Serbien von der Wiederherstellung einer “serbischen Welt” in der Region. Serbiens Präsident Vucic kontert mit der Bemerkung, Kurti geriere sich als “kleiner Selenskyj”.

Vucic hat eindeutig schlechtere Karten. Serbien hat sich zum Ärger der EU den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen. Laut Umfragen lehnen über 80 Prozent der Serben solche Sanktionen gegen einen “Bruderstaat” ab. Serbien ist nicht nur von russischem Gas abhängig, sondern auch von russischer Unterstützung in der Kosovo-Frage.

Andererseits ist die serbische Wirtschaft komplett in Richtung Westen orientiert. Allein deutsche Firmen in Serbien sichern rund 75.000 Arbeitsplätze.

Westliche Politiker, auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, scheinen entschlossen, den russischen Einfluss auf dem Balkan eindämmen zu wollen. Es wird schon gemunkelt – und Kurti sagt es ganz offen: Man erwarte ein “umfassendes Normalisierungsabkommen” zwischen Serbien und Kosovo im Frühjahr 2023. Nach jetzigem Stand klingt das übertrieben optimistisch.