Sicherheitspolitische Neuordnung des Indo-Pazifiks

 “Wenn China erwacht, wird die Welt erzittern.” Der erste Teil dieses gemeinhin Napoleon Bonaparte zugeschriebene Zitats beschreibt die Gegenwart. China ist erwacht und es meldet seinen Anspruch deutlich an: 2049 – zum 100. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas – werde China, so Parteichef und Präsident Xi Jinping auf dem 20. Parteitag im Oktober dieses Jahres, “weltweit führend sein, wenn es um nationale Stärke und internationalen Einfluss geht.” Und zwar nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in geo- und sicherheitspolitischer Hinsicht.

Mit Chinas neuem Anspruch wird die bisherige Sicherheitsarchitektur Asiens, die seit dem Ende des Koreakriegs 1953 besteht, erstmalig “wirklich herausgefordert”, wie der Politikwissenschaftler Felix Heiduk von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin in einer aktuellen Studie zur “Sicherheit im Indo-Pazifik” feststellt.

Nabe-und-Speichen-System

Im Zentrum der Sicherheitsarchitektur Asiens stand das bisherige bald 70 Jahre alte Nabe-und-Speiche-System. Die Nabe bilden dabei die USA, die mit insgesamt fünf Partnern, den sogenannten Speichen (Japan, Südkorea, Philippinen, Thailand und Australien), jeweils bilaterale Allianzen geschlossen hat.

Darüber hinaus haben die USA in den letzten Jahren viele sicherheitspolitische Partnerschaften in der Region vereinbart (s. Grafik). Zu diesen zählt auch die besondere Beziehung zu Taiwan, die im Taiwan Relations Act von 1979 geregelt ist. Damals brachen die USA die Beziehungen zur Republik China (Taiwan) ab, um sie mit der Volksrepublik China aufzunehmen. Das Gesetz legt fest, dass jede durch Zwangsmittel erfolgte Änderung des Status quo durch Peking als Bedrohung für die USA eingestuft wird, und es ermöglicht die Lieferung defensiver Waffen an Taiwan.

2014 erklärte Xi Jinping, dass die etablierte und von den USA dominierte Sicherheitsarchitektur ein “Relikt des Kalten Krieges” sei. An die Stelle des US-geführten Systems solle eine regionale, von Asiaten geführte Ordnung treten.

China selbst geht keine militärischen Allianzen ein, wenn man von der historischen Ausnahme Nordkorea absieht. Allerdings hat die Volksrepublik in den vergangenen Jahren Partnerschaften mit Russland, Kambodscha, Laos, Iran und Pakistan geschlossen (s. Grafik). Andrew Small vom German Marshall Fund hat die Partnerschaft mit Pakistan in seinem jüngsten Buch “The China Pakistan Axis” sogar als “Quasi-Allianz” bezeichnet.

Andere Sicherheitsforen für den Pazifikraum

Neben diesen beiden rund um die USA und China zentrierten Sicherheitsnetzwerken gibt es in Asien traditionell noch weitere Partnerschaften, die für Sicherheit und Stabilität sorgen sollen. Etwa die vom Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) ins Leben gerufenen Foren wie das ASEAN Regional Forum (ARF) oder der East Asia Summit (EAS), die vor allem zur Vertrauensbildung dienen sollen, aber von Kritikern als wenig effektiv abgetan werden. In ihnen sind allerdings nicht nur die ASEAN-Staaten, sondern unter anderem auch die USA, China, Indien und Japan vertreten.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Nabe-und-Speichen-System, so Heiduk, “kein kollektives Verteidigungs- oder Sicherheitssystem” herausgebildet hat, wie es das mit der NATO im Atlantik gibt und mit dem Warschauer Pakt gab. Stattdessen gibt es bilaterale Allianzen und Partnerschaften, die untereinander in der Regel nicht vernetzt sind.

Weder das Nabe-und-Speiche-System noch die diversen Sicherheitsforen der ASEAN haben ein dauerhaft stabiles Fundament für die Sicherheit in Asien geschaffen.  

Brennpunkte und Aufrüstung in Asien

Wie fragil die Sicherheitslage in Asien ist, zeigt eine Auswahl von aktuellen Krisenherden, die sich wie ein Bogen rund um die Volksrepublik China schließen.

Hinzu kommt: Die Rüstungsausgaben in der Region steigen von Jahr zu Jahr . China setzt dabei vor allem auf die Modernisierung seiner Streitkräfte. Bereits 2012 erklärte der damalige Staats- und Parteichef Hu Jintao, dass China militärisch eine “maritime Großmacht” werden müsse. Viele Staaten im Indo-Pazifik investieren verstärkt in U-Boote, vergleichsweise teure und komplexe Waffensysteme, die aber ein besonders großes Abschreckungspotential haben. So haben Vietnam, Singapur, Indonesien und nicht zuletzt Australien in den letzten Jahren U-Boot-Deals abgeschlossen. 

Zusammengenommen steht Asien also vor der Herausforderung, Sicherheit neu zu gestalten, denn dass die bisherige Sicherheitsarchitektur nicht mehr genügt, zeigen die häufiger und heftiger werdenden Zwischenfälle und die zunehmende Aufrüstung – im Zweifel verlässt sich jeder nur auf sich selbst.

Neue Indo-Pazifik Strategien gefragt

Die Reaktion auf die Herausforderung durch Chinas Aufstieg und die wachsende Unsicherheit ist eifrige Geschäftigkeit. Einige Akteure haben Indo-Pazifik-Strategien vorgelegt, wie etwa Japan, Australien, Indien und die ASEAN. Der Trend hat sich bis nach Europa fortgesetzt, wo auch Deutschland seine “Leitlinien für den Indo-Pazifik” und die Europäische Union als Staatenverbund die “EU-Strategie für die Zusammenarbeit im indopazifischen Raum” vorgelegt haben.

Der sogenannte Quadrilaterale Sicherheitsdilaog (QUAD) zwischen den USA, Australien, Japan und Indien hat sich in den letzten Jahren vertieft. Für Anfang 2023 ist ein Treffen der Außenminister angekündigt. Im Rahmen des QUAD hat Japan in seiner Verteidigungsstrategie angekündigt, eine “Gegenschlagsfähigkeit” aufzubauen. Unter anderem dafür hat Tokio Mitte Dezember eine Verdopplung seiner Rüstungsausgaben angekündigt. China deutet das QUAD laut nationalistischem Sprachrohr der Kommunistischen Partei “Global Times” als “informelle Anti-China-Sicherheitsgruppe”.

“Asianisierung” der Sicherheit

Neben den Indo-Pazifik-Strategien und dem QUAD entstehen weitere vor allem bilaterale und minilaterale Kooperationen und Partnerschaften, wie zum Beispiel das indonesisch-indische Militärmanöver “Samudra Sakti”, oder sogenannte “umfassende strategische Partnerschaften” Vietnams mit China, Russland und Indien, die kürzlich um Südkorea erweitert wurden. 

Das Nabe-und-Speiche-System bleibe zwar bestehen, so Heiduk auf einem Vortrag zu einer Konferenz zum Südchinesischen Meer der Universität Hamburg, komme aber angesichts des chinesischen Drucks an Grenzen. Als Alternative entsteht eine Art Spinnennetz: Es entstehen immer mehr Quer- und Seitenverbindungen, insbesondere unter asiatischen Ländern.

Deswegen attestiert Heiduk auch eine “Asianisierung”, also eine relative Abnahme der Bedeutung der USA und eine entsprechende Bedeutungszunahme asiatischer Akteure. Gewissermaßen hat sich Xis Forderung nach einer asiatischen Lösung damit sogar erfüllt, allerdings nicht im Sinne einer Pax Sinica, also einer von China dominierten Sicherheitsordnung, sondern im Sinne eines stetig wachsenden Geflechts von zumeist bilateralen Sicherheitskooperationen unter asiatischen Akteuren.

Konträre Interessen im Pazifikraum

Was die Detailanalyse Heiduks auch zeigt: Die verschiedenen Akteure haben sehr unterschiedliche Interessen und Vorstellungen für die Neuordnung der Sicherheit des Indo-Pazifiks.

Indonesien zum Beispiel verfolgt einen explizit kooperativen und inklusiven Ansatz. Es sieht China ausdrücklich als Partner und Teilhaber. “Jakarta versucht also, für den Indo-Pazifik eine inklusive, ASEAN-zentrierte sicherheitspolitische Alternative zur sich vertiefenden sino-amerikanischen Bipolarität anzubieten”, so Heiduk.

G20-Gipfel: Erstes Treffen zwischen Xi und Biden

Demgegenüber denken die USA, Indien und Australien “die regionale Sicherheitsarchitektur als ein Konstrukt, in dem Sicherheit gegen und nicht mit China hergestellt wird.” Ziel ist es, Chinas geopolitische Ansprüche einzudämmen und die Lasten dafür auf mehrere Schultern zu verteilen, denn die USA haben erkannt, dass sie weitere Partner brauchen, um China in Asien Paroli zu bieten.

Wachsende Unsicherheit statt Sicherheit

Die unterschiedlichen Interessen und Strategien machen deutlich, dass die Sicherheit in Asien von wichtigen Akteuren zunehmend antagonistisch gedacht wird. Für einflussreiche Akteure wie die USA, Australien oder Indien bedeutet Sicherheit, China einzudämmen bzw. die eigene Vormachtstellung zu sichern. Die Folge: Wachsende Spannungen und eine drohende Überforderung des Nabe-und-Speiche-Systems. Ob das im Entstehen begriffene neue Sicherheits-“Spinnennetz” genügt, um die Region zu stabilisieren, ist noch unklar.

Welche Folgen der Ausbruch eines Konflikts in der Region haben könnte, hat in gewisser Weise die Corona-Pandemie vorgeführt: Lieferketten sind abgerissen, die Weltwirtschaft schrumpfte dramatisch. Der Ukraine-Krieg wiederum lässt erahnen, welche verheerenden Folgen etwa ein Krieg um Taiwan – dessen vollständige Wiedervereinigung mit Waffengewalt Xi auf dem 20. Parteitag explizit nicht ausgeschlossen hat – für Asien und die Welt hätte. Die Welt würde erzittern.