Die 15-Minuten-Stadt: Utopie oder machbar?

Städte wachsen weltweit immer schneller – und damit auch die Probleme, die mit schlechter Planung einhergehen. Dazu gehören soziale Ungleichheit und Ausgrenzung, ein überlastetes Verkehrsnetz, Smog und entsprechende Schäden für die Gesundheit und die Umwelt.

Lebten vor 15 Jahren noch etwa gleich viele Menschen in Städten wie auf dem Land, werden bis 2050 laut den Vereinten Nationen zwei Drittel der dann rund 10 Milliarden Erdbewohner in urbanen Regionen wohnen.

Eine Idee, wie diese Zukunft nachhaltiger, lebenswerter und gesünder gestaltet werden könnte, nennt sich “15-Minuten-Stadt”.

Einkaufen, Grün und Arbeiten – alles schnell erreichbar in der 15-Minuten-Stadt

Mehr Lebensqualität für Städter und alle wichtigen Bedürfnisse in der Nähe: Die Grundidee einer 15-Minuten-Stadt ist, dass die Bewohner alles, was sie brauchen, in etwa 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen können. Davon können viele Menschen in großen Städten heute nur träumen: Staus auf dem Arbeitsweg und oft schlechte Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel kosten weltweit viel Zeit und Nerven. 

Ob der Weg zur Arbeit, Läden, Schulen, die Arztpraxis, Sportplätze, Parks, Restaurants oder Kultureinrichtungen, es geht um den “Zugang für jeden, jederzeit” , schreibt Carlos Moreno von der Pariser Sorbonne-Universität, der die Idee erstmals 2016 ausformulierte. 

Ein Konzept, das die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Vordergrund der Stadtplanung stellt, eine Art “Human centered design”. 

Um lebenswertere und nachhaltigere Städte zu gestalten, müssen Stadtplaner umdenken: Grünflächen, Sportflächen, Kinos oder Geschäfte sollten eher dorthin kommen, wo die Menschen leben, nicht andersherum, so Benjamin Büttner, Mobilitätsexperte der TU München.

Dafür müsse nicht alles abgerissen und neu gebaut werden, sondern bestehender öffentlicher Raum schlicht umgestaltet werden, so Büttner. 

Andererseits ist mit der 15-Minuten-Stadt auch ein klares Mobilitätskonzept verbunden: vor allem weniger Autos und mehr Platz für Radfahrer und Fußgänger, sichere Wege für Kinder, Menschen mit Behinderung oder Senioren ebenso sowie Räume zur Begegnung und zu sozialem Austausch. 

“Autos sind zumindest in den städtischen Zentren ein Problem. Sie verbrauchen einfach zu viel Platz. Sie können vor allem die aktive Mobilität behindern”, so Büttner

Paris bis Shanghai: Immer mehr Städte bauen um 

Weltweit gibt es derzeit schon 16 Städte, die die 15-Minuten-Stadt oder ähnliche Konzepte bereits umgesetzt haben oder noch einführen wollen. Die Ansätze variieren: So wollen einige Städte 20-Minuten-Konzepte umsetzen, andere 10-Minuten-Ideen, manche konzentrieren sich zunächst auf einzelne Stadtviertel, anderswo wird die gesamte Stadt umgestaltet.

Smog über der Stadt

Kein romantischer Nebel, sondern giftiger Smog: Paris will mit mehr Radwegen und neuer Stadtplanung gegensteuern

Vorreiter ist unter anderem die französische Hauptstadt Paris. Nachdem Carlos Moreno das Konzept 2016 vorgestellt hatte, nahm Bürgermeisterin Anne Hidalgo das Konzept der 15-Minuten-Stadt in ihre Wiederwahlkampagne auf und begann die Umsetzung.

Im Mittelpunkt des Pariser Konzepts stehen die Schulen als “Hauptstädte”, also Zentren der jeweiligen Stadtviertel. Dafür werden Schulhöfe teilweise in Parks umgestaltet, um sie nach Unterrichtsschluss und am Wochenende auch für andere Aktivitäten zu nutzen. 

In Paris soll außerdem die Hälfte der 140.000 Parkplätze umgestaltet und zu Grünflächen, Spielplätzen, Nachbarschafträumen oder Fahrradstellplätzen umgebaut werden. Bis 2026 sollen alle Straßen der französischen Hauptstadt fahrradfreundlich sein.

2016 kündigte auch Shanghai an, sogenannte “15-minutes community life circles ” einzuführen. In  Zukunft soll dort jeder seine täglichen Aktivitäten innerhalb von 15 Minuten zu Fuß erledigen können. Auch 50 weitere chinesische Städte wollen das Konzept aufnehmen.

Mehr Lebensqualität für Städter will auch eine Initiative in Großbritannien erreichen. Die britische Regierung hat angekündigt, im Rahmen eines landesweiten Renaturierungsprogramms zu ermöglichen, dass künftig alle von ihrem Wohnort aus in höchstens 15 Minuten eine Grünfläche oder offenes Wasser erreichen können.

Zwei Menschen gehen auf einem Weg mit Grünpflanzen auf beiden Seiten zwischen Häusern.

Medellin in Kolumbien wurde für seine grünen Korridore bekannt und dafür ausgezeichnet

Die “Superilles” oder Superviertel von Barcelona

Barcelona in Spanien experimentiert seit einiger Zeit mit sogenannten “Superilles”, zu Deutsch “Superinseln” oder “Superblocks”. Dabei werden jeweils mehrere Häuserblocks zu einem Superblock zusammengefasst. Nur Anwohner oder Lieferfahrzeuge haben Zugang mit dem Auto, zehn Stundenkilometer ist die Maximalgeschwindigkeit.

Viele Straßen werden für Autos gesperrt und anders genutzt. Wo vorher Parkplätze waren, stehen dann Bäume, Kinder spielen und Senioren sitzen im Schatten auf einer Parkbank und Gemüse oder Blumen gedeihen in Hochbeeten.

Mehrere Kinder und Eltern radeln auf einer autofreien Strasse, ein Kind guckt aus dem Kindersitz nach hinten.

In Barcelona bringt die Elterninitiative “Bicibus” (“Fahrradbus”) die Kinder per Rad auf autofreier Straße zur Schule

“Taktischen Urbanismus” nennt Büttner diesen Ansatz. Die Konzepte werden jeweils für zwei bis sechs Monate ausprobiert, “um dann zu sehen, ob sich die Situation verbessert oder sogar verschlechtert hat. Und dann kann man immer noch sagen, lasst uns zurückgehen, wie es vorher war. Aber wenn es besser geworden ist, dann kann man das auch zu einer dauerhaften Maßnahme machen.”

Derzeit werden in Barcelona 60 Prozent des öffentlichen Raums und 85 Prozent der Straßen für den Verkehr genutzt. Mehr als die Hälfte der Einwohner sind Lärm und Luftverschmutzung ausgesetzt, die die Grenzwerte der WHO deutlich übersteigen, und zu höheren Sterberaten führen. Durch die neuen Viertel soll der motorisierte Verkehr um 21 Prozent reduziert werden. In Zukunft sollen dann statt 56 Prozent der Menschen nur noch 6 Prozent zu hoher Luftverschmutzung jenseits der Grenzwerte ausgesetzt sein.

Eine vielbefahrene mehrspurige Straßenkreuzung in Kuala Lumpur

Wenig Lebensraum für Menschen: Ein Großteil der Flächen in Städten wird derzeit ausschließlich für den Verkehr genutzt

Schadet fehlender Autoverkehr dem Geschäft? 

Wer kein Auto für das tägliche Leben braucht, spart Geld. Städte, die in Fahrrad- und Fußwege, öffenlichen Verkehr sowie Grünflächen investieren, sind zudem attraktiver für den Tourismus und locken Besucher an. 

Studien zeigen, dass mehr Rad- und Fußverkehr in Städten und Regionen Kosten spart, weil sie weniger Geld für Straßeninstandhaltung und den öffentlichen Gesundheitssektor ausgeben müssen.

Die positiven Effekte des Radfahrens werden laut des europäischen Radfahrerverbands allein in der EU auf über 90 Milliarden Euro beziffert. Dagegen verursacht der motorisierte Verkehr dort mehr als 800 Milliarden Euro Kosten für Gesundheit, Umwelt und die Infrastruktur im Jahr.

Viele Geschäftsinhaber sind anfangs skeptisch, weil sie Umsatzeinbrüche fürchten, wenn Kunden nicht mehr mit dem Auto vorfahren können. Tatsächlich können auch sie von 15-Minuten-Maßnahmen profitieren, wie etwa in der Stadt Portland im Westen der USA, wo der Autoverkehr um 20 Prozent zurückging. Gleichzeitig verdienten örtliche Geschäfte seitdem etwa 1,2 Milliarden Dollar mehr, weil Fußgänger und Radfahrer häufiger auf dem Weg einkauften.

Städte für Menschen: Groningen als Vorbild für europäische Großstädte

15-Minuten-Konzepte für jeden Ort unterschiedlich 

Damit möglichst viele Menschen von der Umstellung profitieren, und nicht neue Ungleichheiten und Gentrifizierung drohen, ist laut Experten eine soziale Durchmischung der Viertel und die Einbeziehung möglichst vieler Stadtteile wichtig. Dafür brauche es auch ein Neudenken bei den Nutzungsverordnungen und klassischen Planungskategorien wie Stadtzentrum, Wohngebiet, Vorort, Gewerbe – und Randgebiete, die weltweit zu sozialer Ungleichheit und Ausgrenzung in Städten beigetragen haben. 

Laut Büttner sei vor allem politischer Wille und Mut bei Politikern und Verwaltungen nötig – und ein bürgernaher Dialog mit allen Beteiligten.

Denn die eine Pauschal-Lösung für alle Städte gebe es nicht. Jeder Ort, jedes soziale, wirtschaftliche und ökologische Gefüge einer Stadt sei anders, betont Büttner. Und je nach Kontext sollte entschieden werden, welche Maßnahmen am besten passen.