Der Gast aus New York sparte nicht mit dramatischen Worten. Antonio Guterres, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, versuchte der Gipfelrunde der Europäischen Union kräftig ins Gewissen zu reden. “Wir sind nahe an dem Punkt, von dem an es unmöglich sein wird, dass 1,5 Grad-Ziel noch zu erreichen. Deshalb brauchen wir durchschlagendes Handeln.” Der UN-Chef bezog sich auf die internationale Vereinbarung, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen – und dies vor dem Jahr 2030.
Nachdem der Weltklimarat (IPCC) und die Weltwasserkonferenz in dieser Woche eine rapide Verschlechterung der globalen Klima- und Wasserbedingungen vorhersagten, hatte Guterres für die Europäische Union diese Botschaft: “Wir zählen sehr stark auf die Europäische Union, die notwendigen Veränderungsprozesse anzuführen, um wieder auf das Ziel von 2030 einzuschwenken.” Die Bemühungen um Klimaschutz müssten beschleunigt werden, forderte der UN-Generalsekretär. Die EU will 2050 klimaneutral wirtschaften. Das sei zu spät und müsse um Jahrzehnte vorgezogen werden.
Der deutsche Konflikt mit der Europäischen Union um die Zulassung von Autos, die ab 2035 ausschließlich mit klimaneutralem Treibstoff fahren dürfen, erscheint vor dem Hintergrund der globalen Probleme eher wie ein Petitesse. Der Streit um den Verbrennermotor, den der FDP-Verkehrsminister Volker Wissing ausgelöste hatte, soll auf dem EU-Gipfel keine Rolle spielen. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, die Gespräche mit der EU-Kommission über die Auslegung der Bestimmungen seien auf gutem Weg.
UN und EU sind sich einig
Die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen der EU reagierten auf die Forderungen von UN-Generalsekretär Antonie Guterres wohlwollend. Die EU verweist auf die vielen Gesetze zum Schutz des Klimas, die sie auf den Weg gebracht hat. An dem Ziel, 2035 rund 55 Prozent des Kohlendioxid-Ausstoßes einzusparen und 2050 tatsächlich bei Null Emissionen zu landen, hat das Treffen in Brüssel aber nichts geändert. Die Diskussion mit Guterres sei “ein wichtiger Impuls” für die Debatten innerhalb der EU, meinte ein EU-Diplomat.
Bundeskanzler Olaf Scholz: Verbrenner-Streit ist kein Thema für den Gipfel
Bei der Beurteilung der globalen Lage waren sich die EU und der UN-Gast weitgehend einig. Antonio Guterres bezeichnete die Situation für viele ärmere Länder der Erde als “perfekten Sturm”. Das Zusammentreffen von Klimakrise, Auswirkungen des russischen Krieges gegen die Ukraine, Folgen der Pandemie und steigende Preise auf den Weltmärkten könne fatale Konsequenzen haben. “Hunger und Armut steigen”, warnte Guterres.
Die EU begrüßte, dass es Guterres zumindest gelungen war, das Abkommen zwischen der Ukraine und Russland zum Export von Getreide durch das Schwarze Meer zu vermitteln.
Munition für die Ukraine
In einer Videokonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ließen sich die EU-Staats- und Regierungschefs die Lage im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schildern. Sie billigten den Plan, der Ukraine in diesem Jahr eine Million dringend benötigter Geschosse zu liefern und dafür zwei Milliarden Euro aus EU-Mitteln aufzuwenden.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte in Brüssel, die Mitgliedsstaaten der EU würden ihre eigenen Lagerbestände räumen und dafür von der EU entschädigt. Außerdem habe man sich darauf verständigt, gemeinsam neue Munition bei der Waffenindustrie zu bestellen. So solle die Industrie Sicherheit für einen Ausbau der Kapazitäten erhalten. Gleichzeitig sollten die Preise für Artilleriemunition, die sich im letzten Jahr verdoppelt haben, begrenzt werden.
“Wenn wir diese gemeinsame Beschaffung einführen, kann die Waffenindustrie ihre Produktion tatsächlich verdoppeln, was bisher nicht geschehen ist”, meinte die Regierungschefin von Estland, Kaja Kallas, die sich besonders für Munitionslieferungen einsetzt.
Doch selbst wenn die eine Million Schuss in diesem Jahr aus der EU geliefert werden sollte, der Bedarf der ukrainischen Armee ist weitaus höher. Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums werden zum Beispiel jeden Tag 7000 Artilleriegranaten mit Kaliber 155mm verschossen. Das sind aufs Jahr gerechnet schon 2,5 Millionen Granaten, und das allein von dieser einen Sorte. Munition für Panzer, Flugabwehrkanonen und Haubitzen kommt noch hinzu.
Nach Meinung von Experten in der Waffenindustrie wird die Ausweitung der Produktion schon allein dadurch erschwert, weil Ausgangsmaterialien wie TNT oder Schießpulver knapp werden. Sie müssten jetzt zum Beispiel aus Südkorea importiert werden. “Es ist entscheidend, die Munition schnell in die Ukraine zu schicken, weil das eine Wende im Krieg bringen könnte”, sagte die estnische Ministerpräsidentin Kallas in Brüssel. Erhebliche Mengen an Munition erhält die Ukraine parallel zu den EU-Zusagen auch aus den USA.
UN-Chef Guterres (li.) macht sich Anfang März bei Präsident Selenskyj ein Bild von der Lage in der Ukraine
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat vermutlich noch einmal seine Forderung nach mehr Waffen, mehr Kampfjets und weit reichenden Raketen wiederholt. Bislang ist die Europäische Union in diesem Bereich insgesamt zurückhaltend. Polen hat die Lieferung von einigen Kampfflugzeugen zugesagt, während sich Deutschland weiter zurückhält.
Einer schert aus
Bundeskanzler Olaf Scholz lobte den Zusammenhalt der Europäer in der Ukraine-Politik. Der Vorsitzende der Gipfelrunde, EU-Ratspräsident Charles Michel, wiederholte noch einmal die Verpflichtung, dem EU-Beitrittskandidaten Ukraine beizustehen, solange es nötig sei. Allerdings gibt es einen Schönheitsfehler: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban tanzt aus der Reihe und lehnt Munitionslieferungen an die Ukraine ab. Das würde den Krieg nur verlängern, ließ Orban wissen. Ungarn legte allerdings kein Veto gegen die Munitionsvereinbarung ein. Orban äußerte sich vom Gipfeltreffen nur mit einem populistischen Tweet: “Keine Einwanderung, keine Genderpolitik, kein Krieg”, schrieb Orban in Großbuchstaben bei Twitter.
Enfant terrible: Ungarns Premier lehnt die Ukraine-Politik der EU zunehmend ab
Neben der Außenpolitik stehen wirtschaftspolitische Themen auf der Tagesordnung. Gebeutelt von Inflation, hohen Energiepreise und Lücken in den Lieferketten denken die Staats- und Regierungschefs über Wege nach, die EU-Wirtschaft unabhängiger von China und widerstandsfähiger gegen äußere Schocks zu machen. Dazu gehört auch eine Reform des Elektrizitätsmarkts in der EU, die aber noch umstritten ist.