Xabi Alonso kratzte sich etwas ungläubig am Bart, schaute sich ein wenig orientierungslos an der eigenen Bank um und schritt dann ziemlich schnell zur Bayern-Bank, wo er einige seiner alten Weggefährten aus Münchener Tagen umarmte. Fast wirkte es so, als wolle der Spanier sich für die Niederlage, die er den Bayern soeben zugefügt hatte, entschuldigen.
Vielleicht hatte der 41-Jährige aber auch einfach noch nicht realisiert, dass er gerade als Trainer von Bayer Leverkusen seinen Ex-Klub bezwungen hatte. Was nicht verwundern würde, denn der Leverkusener Sieg war der erste gegen den Rekordmeister seit November 2019 und das eben im ersten Anlauf Alonsos als Trainer in der Bundesliga.
Oder es lag einfach an der überaus kuriosen Art und Weise, wie Leverkusen das Spiel nach dem 0:1-Rückstand in einen 2:1-Sieg gedreht hatte? Denn zweimal hatte sich quasi die identische Szene ereignet. Die Hauptbeteiligten: Leverkusens Offensivmann Amin Adli, Schiedsrichter Tobias Stieler, der Video Assistant Referee (VAR) und Exequiel Palacios.
Paradebeispiel für den VAR
Zweimal war Adli im Bayern-Strafraum zu Fall gekommen, zweimal bezichtigte Stieler ihn einer Schwalbe und zeigte ihm Gelb. Doch zweimal meldete sich der VAR bei Stieler und dieser nahm seine Entscheidung zweimal zugunsten von Adli zurück und zeigte nach Studium der Videobilder auf den Elfmeterpunkt. Zweimal vollstreckte Weltmeister Palacios vom Elfmeterpunkt aus (55./73. Minute) und sorgte damit für den Leverkusener Sieg.
“Das war heute ein Paradebeispiel für die perfekte Zusammenarbeit mit dem Videoassistenten”, sagte Tobias Stieler nach der Partie bei “DAZN”. “Das war heute sehr sehr gut und quasi meine Lebensrettung und die Lebensrettung für das Spiel.” Beide Mannschaften seien “am Ende happy” gewesen und das zähle, so Stieler, der sich beim Videoassistenten bedankte: “Zweimal auf dem Feld daneben gelegen, zweimal vielen Dank nach Köln in den Keller für die tolle Unterstützung.”
Hauptdarsteller der “VAR-Festspiele”: Leverkusens Amin Adli und Schiedsrichter Tobias Stieler
Die Szenen zuvor werden Stieler, Adli und die Zuschauer so schnell nicht vergessen. Nach Ansicht der Bilder der zweiten Szene kam Stieler auf Adli zugelaufen, kreuzte die Arme über der Gelben Karte und lachte. Anschließend gaben sich beide ein Shakehands und Palacios trat zum Elfmeter an – eine Szene wie man sie in der Bundesliga im Kontext mit dem Videoassistenten nur höchst selten bestaunen kann. Adli, der ihm bei der zweiten Szene mit einer Geste bereits signalisiert hatte, dass er sich die Bilder nochmal anschauen solle, habe ihm sein Trikot versprochen, erzählte Stieler nach dem Spiel bei “DAZN”.
Was ein wenig klingt, wie aus einem Sportfilm der Marke “Hollywood” bracht an diesem Abend alle Leverkusener am Ende zum Jubeln. Da wird es auch den Fans egal gewesen sein, dass sie mit einem Spruchband gegen den VAR in Sachen Dramaturgie an diesem Abend ziemlich daneben lagen. “Ihr macht euch zum Affen. Videobeweis abschaffen”, stand auf einem Spruchband, das vor der Ausführung des ersten Elfmeters in der Leverkusener Kurve hochgehalten wurde.
Alonsos Handschrift
Konterstärke, konzentrierte Defensive und die Flexibilität in Sachen Aufgabenübernahme in allen Mannschaftsteilen waren an diesem Abend der Schlüssel zum Leverkusener Sieg. Ein verdienter Sieg – darin waren sich Sieger wie Verlierer nach der Partie einig, genauso wie in der Beurteilung der Elfmetersituationen. “Ich habe relativ schnell gesehen, dass es beides Mal Elfmeter war”, sagte Bayern-Trainer Julian Nagelsmann bei “DAZN” und sprach von einer verdienten Niederlage. “Wir waren außer vielleicht in den letzten zehn Minuten die schlechtere Mannschaft”, so Nagelsmann, der Power vermisste und eine “träge” Mannschaft gesehen hatte.
“Die Niederlage ist unterm Strich verdient”, sagte Thomas Müller bei “DAZN” und attestierte Leverkusen, “einfach giftiger und galliger” gewesen zu sein. “Das, was uns in den letzten Spielen ausgezeichnet hat, hat Leverkusen heute gehabt. Über den Schiedsrichter müssen wir nicht diskutieren. Wir haben andere Themen”, so Müller, der nach dem Schlusspfiff zu den ersten von Xabi Alonso umarmten Bayern-Akteuren gehörte. Müller ist einer von fünf aktuellen Bayern-Profis, mit denen Alonso noch zusammengespielt hat. Die anderen sind der verletzte Manuel Neuer, Ersatztorwart Sven Ulreich, Kingsley Coman und Joshua Kimmich, der in der 22. Minute die Bayern-Führung erzielte und beim Rekordmeister quasi der Erbe Alonsos als Mittelfeld-Mastermind ist.
Vierter in der fiktiven Tabelle seit seinem Amtsantritt in Leverkusen: Xabi Alonso
Alonso hingegen hat längst andere Aufgaben übernommen und arbeitet in Leverkusen kontinuierlich an seinem Ruf als Trainer. Der Sieg gegen den Ex-Klub wird dem Spanier dabei Rückenwind geben, genauso wie die Tatsache, dass Bayer Leverkusen in der Bundesliga-Tabelle den vierten Platz belegen würde, wäre die Saison erst mit Alonsos Amtsübernahme im Oktober 2022 gestartet. “Es ist unglaublich”, sagte Alonso nach dem Spiel bei “DAZN” und war “glücklich, zufrieden und stolz.”
“Er macht das gut. Aber nicht nur in den letzten drei Wochen, sondern auch vorher”, sagte Bayer-Sportdirektor Simon Rolfes der DW nach dem Spiel. Die Mannschaft habe eine Entwicklung genommen, so Rolfes. “Es zeigt sich immer mehr, dass wir gut verteidigen aber auch mit Ball immer besser in der Lage sind, das Spiel zu kontrollieren. Das ist auch seine Handschrift, die das Spiel trägt.”
Bayern unter Druck
Der Spanier hat aus dem taumelden Dauerverlierer des Saisonanfangs eine Mannschaft geformt, die auf dem Sprung ist, den Anschluss nach ganz oben herzustellen. Und dort wird der Kampf um den Titel durch die Bayern-Niederlage immer spannender. Borussia Dortmund liegt dank der 6:1-Gala gegen den 1. FC Köln und Bayerns Patzer zwei Punkte vor den Münchenern an der Tabellenspitze und geht mit breiter Brust in den Bundesliga-Showdown gegen die Bayern nach der Länderspielpause am 1. April in München
Dieses Spiel wird auch Xabi Alonso sicher verfolgen. Wem er dabei die Daumen drückt, liegt aufgrund seiner Vergangenheit als Spieler auf der Hand. Der Trainer Alonso wird das Duell der beiden momentan besten Teams der Bundesliga aber weniger aus der emotionalen Perspektive betrachten, als aus der analytischen. Denn schließlich gibt es von den Spitzenteams eine Menge zu lernen, wenn man selber eines formen will. “Wir haben unser Spiel und unsere Stabilität schon verbessert”, hatte Alonso vor dem Bayern-Spiel betont und fügte verheißungsvoll an: “Die letzten Monate waren gut und wir haben noch zwei Monate Vollgas zu gehen.”