Sie nahm stellvertretend für ihren in Belarus inhaftierten Ehemann den Friedensnobelpreis im Dezember 2022 in Oslo entgegen. Sie hielt bei der Zeremonie eine starke Rede über Freiheit, Demokratie und Menschenrechte in Belarus – Werte, für die sich ihr Mann, der bekannte Menschenrechtsaktivist Ales Bjaljazki seit zwei Jahrzehnten einsetzt.
Nur drei Monate später, am 3. März 2023, wurde der 60-Jährige zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Kollegen vom Menschenrechtszentrum “Wjasna” (Frühling), Valentin Stefanowitsch und Wladimir Labkowitsch, zu neun beziehungsweise zu sieben Jahren. Die Dissidenten hatten Menschen geholfen, die während der Massenproteste gegen die gefälschte Präsidentenwahl in Belarus 2020 festgenommen worden waren.
Elf Tage nach dem Urteilspruch gelang es der Deutschen Welle, mit Bjaljazkis Ehefrau zu sprechen. Das Interview mit der im Exil lebenden Natalia Pinchuk, die ihren genauen Aufenthaltsort aus Sicherheitsgründen nicht angeben möchte, wurde digital geführt.
Deutsche Welle: Frau Pintschuk, was hat die Verurteilung persönlich bei Ihnen ausgelöst?
Natalia Pintschuk: Das Urteil hat mich hart getroffen. Ich habe schon die erste Verhaftung von Ales durchmachen müssen, was die Sache noch schlimmer macht, denn ich weiß, was das bedeutet (Anmerk. d. Red.: Im Jahr 2011 wurde Bjaljazki zu 4,5 Jahren Haft verurteilt, wurde aber nach drei Jahren von Machthaber Alexander Lukaschenko auf Druck der Weltgemeinschaft freigelassen). Zehn Jahre sind eine lange Zeit. In Belarus bekommen Regierungsgegner bis zu 25 Jahre Gefängnis… Bei manchen bedeutet das angesichts ihres Alters und der unerträglichen Haftbedingungen lebenslänglich. Eine Strafe von zehn Jahren soll die Gesundheit und den Menschen an sich zerstören. Das kann man nicht einfach so hinnehmen.
“Es passieren schreckliche Dinge”
Hat der Nobelpreis das Urteil irgendwie beeinflusst?
Dass der Prozess nicht hinter verschlossenen Türen geführt wurde, war höchstwahrscheinlich eine Reaktion auf den Preis. Das sollte den Westen herausfordern. Die Behörden versuchen, Menschenrechtler als Kriminelle darzustellen, damit das Urteil nicht politisch motiviert aussieht, sondern mit Schmuggel in Verbindung gebracht wird. Aber dies ist ihnen nicht gelungen.
Ales Bjaljazki mit seiner Frau nach seiner Freilassung im Juni 2014 in Minsk
Was hat der Nobelpreis für Ihren Mann und andere politische Gefangene verändert?
Das Wichtigste ist, dass der Preis die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hat, was für schreckliche Dinge in Belarus passieren. Der tägliche Terror, die Repressionen hören seit 2020 nicht mehr auf. Hunderte von Menschen werden inhaftiert, jeden Tag gibt es Festnahmen. Die Zahl von rund 1500 politischen Gefangenen ist im Vergleich zur tatsächlichen Zahl winzig, denn von vielen wissen wir gar nichts.
Können Sie sagen, wie Sie derzeit leben?
Wir Ehefrauen müssen unser Leben irgendwie regeln. Ich habe mit Ales 35 Jahre gelebt, es ist schwer, ihn nicht um mich zu haben, ich muss mich jeden Tag daran gewöhnen. Vorerst bleibe ich Belarus fern, für wie lange, ist schwer zu sagen. Zurzeit gibt es keine Hoffnung, dass Ales und seine Kollegen von “Wjasna” freikommen.
Was hilft Ihnen in dieser schwierigen Zeit?
Als Ales zum ersten Mal verhaftet wurde, fand ich neue Freunde. Es waren Leidensgenossen, denn ihre Söhne und Ehemänner saßen ebenfalls im Gefängnis. Als unsere Lieben freikamen, ging unsere Freundschaft nicht verloren, sondern blieb erhalten. Und als eine Zeit neuer Prüfungen anbrach, kamen wir uns noch näher.
Haben Sie Informationen darüber, wie es Ihrem Mann geht?
Es gibt wenig Möglichkeiten, welche zu bekommen. Es gibt eine Korrespondenz, aber nicht alle seine Briefe kommen bei mir, und auch nicht alle meine kommen bei ihm an. Vor zehn Jahren konnten Anwälte noch etwas übergeben. Jetzt schweigen sie, weil sie sonst ihre Lizenz verlieren oder ins Gefängnis geworfen werden könnten. Einer von Ales’ Anwälten wurde bereits zu einer langen Haftstrafe verurteilt, einem anderen wurde seine Zulassung entzogen… Die Verteidigung von Menschenrechtlern ist eine gefährliche Beschäftigung.
Nobelpreisträger Ales Bjaljazki während des Prozesses gegen ihn im Januar 2023
“Ich spüre Unterstützung aus der Ukraine”
Sie haben für Ihren Mann den Nobelpreis entgegengenommen. Die Auszeichnung beinhaltet auch den ihm zustehenden Betrag von 300.000 Euro. Was machen Sie damit?
Ich habe die Medaille und das Diplom symbolisch entgegengenommen, sie werden bei Freunden aufbewahrt. Das Geld kann nur an Ales ausgezahlt werden, und zwar dann, wenn er aus dem Gefängnis kommt. Der Preis “wartet” also auf seine Freilassung.
Haben Sie Kontakt zu den anderen Preisträgern, der russischen Menschenrechtsorganisation “Memorial” oder dem “Center for Civil Liberties” in der Ukraine ?
Unmittelbaren Kontakt gibt es nicht, aber es ist Unterstützung für Ales zu spüren, besonders von ukrainischer Seite, für die ich sehr dankbar bin. Dass Belarus allerdings ebenfalls als Aggressor gilt, verschlechtert die Lage. Die Belarussen sind in dieser Situation als Volk ohne Schuld schuldig. Dabei unterstützen sie zum größten Teil die Ukrainer, das sollte man wissen. Belarussen sind keine Russen, sie haben keine imperialen Ambitionen, sie brauchen keinen Krieg. Man muss unterscheiden, welche Position die Staatsmacht vertritt, und für wen das Volk ist. Am 24. Februar haben Belarussen in Minsk die ukrainische Flagge herausgeholt. Inzwischen gibt es Gesetze, wonach Menschen ihr Leben riskieren, wenn sie Unterstützung für die Ukraine zeigen.
2020 und 2021 stand Belarus im Fokus, mittlerweile dominiert der Krieg in der Ukraine die Berichterstattung….
Das stimmt. Das habe ich selbst zu spüren bekommen. 2011 war die Unterstützung sehr groß, auch mein Mann Ales hat sie gespürt. Nun wird verdrängt, dass es in Belarus sehr viele politische Häftlinge gibt. Der Friedensnobelpreis für Ales rückte Belarus wieder ein wenig in den Fokus. Es ist wichtig, dass die Welt begreift, dass die Belarussen bereit sind, für ihre Überzeugungen zu kämpfen, auch wenn jetzt eigentlich ganz Belarus in Haft ist.
“Manchmal läuft die Arbeit im Stillen besser”
Was würden Sie sich von der internationalen Gemeinschaft wünschen?
Solidarität in konkreten Aktionen. Die Inhaftierung von Menschen ist auch ein Schlag für ihre Familien. Ihnen muss geholfen werden, damit sie ihren Angehörigen in den Gefängnissen und sich selbst helfen können. Viele sind gezwungen zu emigrieren, auch sie brauchen zumindest am Anfang Hilfe, bis sie Arbeit finden. In Belarus laufen “Säuberungen”, jeder, der der Staatsmacht gegenüber als illoyal gilt, verliert seinen Job. Eine neue Beschäftigung zu bekommen, ist fast unmöglich. Die EU könnte diese Menschen unterstützen und ihnen die Chance zum Überleben zu geben.
Was kann man für politische Gefangene tun? Früher wurden sie beispielsweise im Tausch gegen die Lockerung von Sanktionen freigelassen.
Man kann nicht immer die Schritte nennen, die eine Freilassung politischer Gefangener erleichtern würde. Manchmal läuft die Arbeit im Stillen besser… Es bleibt zu hoffen, dass EU-Politiker Wege finden werden, Schritte zu unternehmen, die zur Freilassung politischer Gefangener beitragen.
Das Gespräch führte Elena Doronina. Der Text wurde aus dem Russischen adaptiert.