Sexueller Missbrauch: “Hilfe ist möglich”

Die Ermittler sprachen von extremer Brutalität gegen Säuglinge, Kleinkinder und Kinder mit Behinderung, Bilder wurden vielfach im Internet geteilt und getauscht. Der Missbrauchskomplex Wermelskirchen in Nordrhein-Westfalen (NRW) schockierte. Ein Mann in dem Ort bei Köln fand seine Opfer als Babysitter.

Professor Matthias Franz ist Psychoanalytiker und emeritierter Hochschullehrer für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Er hat dort das Präventionsprojekt “Kein Täter werden” geleitet.

Deutsche Welle: Ist Wermelskirchen für Sie eine neue Dimension?

Matthias Franz: Das ist sicher keine Neuerscheinung. Wehrlose Kinder waren schon immer Opfer impulsiver Aggressivität und sexualisierter Gewalt von Erwachsenen. Es ist ein Fortschritt, wenn wir als Gesellschaft endlich wahrnehmungsfähiger werden für kindliches Leid und sexualisierte Gewalt.

Vor mehreren Mikrofonen sitzen zwei Männer in dunklen Anzügen mit weißem Hemd und blicken ernst in Richtung der Mikrofone

Aufklärung von Missbrauch in Nordrhein-Westfalen: Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln im Komplex Wermelskirchen gegen mehr als 70 Tatverdächtige aus 14 Bundesländern

Im Komplex Wermelskirchen war das jüngste Opfer erst einen Monat alt. Wie wirken Missbrauchserfahrungen in frühester Kindheit?

Wir haben ein besonderes Gedächtnissystem im Gehirn für alles, was uns jemals Angst und Schmerz bereitet hat: der Mandelkern oder Amygdala. Das Problem ist, dass dieses Gedächtnis keinen Anschluss an das Sprachbewusstsein hat, weil sich das später entwickelt. Erfahrungen durch Misshandlung oder Gewalt werden in diese vorsprachlichen Gedächtnisspeicher eingeschrieben.

Ein Beispiel: Wenn ich als Kind Schlimmes erlebt habe, steigt das vielleicht 40 Jahre später wieder auf, wenn der Chef ähnlich guckt wie mein Vater, bevor er mich verprügelt hat. Der Mandelkern im Gehirn stellt eine Ähnlichkeit des Gesichtsausdrucks fest. Am Bewusstsein vorbei springt die Alarmkaskade an: Stresshormone werden ausgeschüttet – als ob ich wieder das kleine Kind bin, das geprügelt wird. Dann kriege ich nach 40 Jahren eine Panikattacke im Büro, weil ich den Chef, der sich vielleicht gar nicht über mich geärgert hat, unbewusst so erlebe wie den Prügelvater meiner Kindheit.

Porträt eines Manns mit grauem Haar und Bart, der offen in die Kamera blickt

Psychoanalytiker Prof. Dr. Matthias Franz: Sexualisierte Gewalt ist die ultimative Katastrophe für die kindliche Entwicklung

Es ist eine Notfall-Reaktion: Todesangst, Herzrasen, Panik. Der Patient kommt in die Notaufnahme, Verdacht auf Herzinfarkt. Wenn er Pech hat, kriegt er gesagt: “Sie haben nichts, gehen Sie nach Hause.” Wenn er Glück hat, wird ihm gesagt: “Sie hatten eine Panikattacke. Das hängt vielleicht mit früher zusammen. Machen Sie eine Psychotherapie.”

Die Psychoanalyse hat die Folgen früher Angst- und Schmerzerfahrungen und ihre unbewusste Verarbeitung schon vor über 100 Jahren beschrieben. Die Neurowissenschaften können diese Systeme heute im Scanner beobachten und belegen, dass das sich entwickelnde kindliche Gehirn durch Misshandlungserfahrungen psychosomatisch erkranken kann.

Was muss geschehen?

Wir wissen, dass in der Kindheit misshandelte Erwachsene häufig eine erniedrigte Stress-, Angst- und Schmerz-Schwelle haben. Das kann man messen, es macht krank. Die Gesellschaft muss über diese Zusammenhänge aufgeklärt werden. Die Kindheit dauert ein Leben lang. Was in den ersten sechs Jahren an anhaltenden Belastungen verinnerlicht wird, ist im System.

In der Psychotherapie kann es Jahre dauern, Wege und Worte zu finden, mit dem umzugehen, was ich als diffusen Stress oder namenlose Angstzustände spüre, weil es mir in der Baby-Zeit angetan wurde.

Dass vielen Kindern entsetzliches körperliches und seelisches Leid zugefügt wird, müssen wir als gesellschaftliche Aufgabe begreifen. Es steht in der UN-Kinderschutz-Konvention, dass man Kinder vor Schmerz, Angst und Quälerei zu schützen hat. Die Gesellschaft muss mehr Aufmerksamkeit und Empathie entwickeln für das, was Kindern schadet.

Davor haben viele Erwachsene Angst, nicht selten, weil sie selbst eine belastete Kindheit hatten und das Thema verdrängen. Wir brauchen aber ein Bewusstsein dafür, dass sexualisierte Gewalt – je früher, je schlimmer und je länger die Folgen -, die ultimative Katastrophe für die kindliche Entwicklung ist. Wir müssen darüber sprechen, nicht in Hinterzimmern, sondern auf der großen Bühne. Was in NRW geschieht, ist gut: ein repressiver, aufklärender und präventiver Umgang mit der sexualisierten Gewalt gegen Kinder.

Blick zur Tafel in einem Klassenraum: Vorne steht die Lehrerin und hebt einen Arm, vor ihr - mit dem Rücken zum Betrachter viele Schülerinnen und Schüler, die zur Lehrerin blicken und ebenfalls ihre Arme heben

Man schätzt, dass in Deutschland in jeder Klasse ein bis zwei Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen sind

Sexualisierte Gewalt ist weitverbreitet. Wir brauchen Methoden, um Kinder in Not zu identifizieren. In jeder Klasse sitzen ein bis zwei Betroffene. Wenn es Eltern nicht merken oder sogar selbst Täter sind, müssen andere Erwachsene etwa in Schulen dafür sorgen, dass betroffene Kinder erkannt werden und Hilfe erhalten.

Wir wissen aus Langzeit-Untersuchungen schwer misshandelter Kinder, dass sie später viel häufiger psychosomatische oder Sucht-Erkrankungen entwickeln. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder mit schweren Missbrauchserfahrungen eine bis zu 20 Jahre reduzierte Lebenserwartung haben können.

Die heute erwachsenen Opfer dürfen es nicht so schwer haben, Anerkennung und Therapien zu erhalten. Etwa 30 Prozent unserer Patienten und Patientinnen in psychosomatischen Kliniken sind Betroffene sexualisierter Gewalt in der Kindheit.

Was hilft Eltern und Betroffenen in einem Fall wie Wermelskirchen?

Die Eltern sind in großer Not, sie brauchen Hilfe: Therapie, Beratung. Sexualisierte Gewalt ist aus psychoanalytischer Sicht toxisches Material, das krank macht – je näher man dran ist, umso mehr.

Deshalb sind die Eltern betroffen, auch Ermittler und am schlimmsten die Kinder. Hier muss man mit besonderer Sorgfalt hinschauen: betroffene Kinder beispielsweise bei Kindertherapeuten vorstellen. Wenn sich Auffälligkeiten abzeichnen, kann geholfen werden.

Wie können Betroffene als Erwachsene damit weiterleben?

Die Gesellschaft hat zu lange weggeschaut, sie muss Therapien finanzieren. Man kann Opfern sagen: “Hilfe ist möglich. Das Geschehene kann nicht rückgängig gemacht werden. In Grenzsituationen werden Sie immer mal wieder den Hauch der Hölle spüren, der Sie als Kind ausgesetzt waren.”

Aber es ist mithilfe von Therapie möglich, erwachsene Wege zu finden, diese Hölle einzugrenzen. Erwachsene können sich, wenn sie getriggert werden, genauso schrecklich fühlen wie damals. Aber die Schwelle, ab der das geschieht, kann man hochschieben.

Alle sollen helfen, Kindesmissbrauch zu erkennen. Gibt es Hinweise?

Es gibt Alarmzeichen: Man sollte nachhaken, wenn Kinder still werden, sich zurückziehen, wenn sie plötzlich Brüche im gewohnten Verhalten zeigen oder ein unangemessenes sexualisiertes Verhalten.

Bei starken Leistungseinbrüchen sollten die Menschen im Umfeld nachfragen: Wie geht’s dir, hast du Kummer? Gibt es etwas, was dich bedrückt? Sie sollten Gespräche mit Schulpsychologen ermöglichen oder Eltern Beratung anbieten und im Zweifelsfall das Jugendamt einschalten.

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Kindesmissbrauch im Darknet

Aber es gibt keine einfachen Hinweise, wo man weiß, hier muss sexualisierte Gewalt vorliegen. Deshalb: Lieber einmal zu viel hinschauen als einmal zu oft wegsehen.

Sie haben das Präventionsprojekt “Kein Täter werden” am Uniklinikum Düsseldorf geleitet, worum geht es?

Die meisten Psychotherapeuten lehnen die Behandlung potentieller Täter ab. “Kein Täter werden” ist ein Präventionsprogramm, das an vielen Unikliniken angeboten wird. Es richtet sich an pädosexuell Veranlagte, meist Männer, die bislang nicht kriminell geworden sind. Am Trieb, sexuelle Erregung durch kleine Kinder zu erlangen, lässt sich zumeist nichts ändern.

Ziel ist es daher, Klienten in die Lage zu versetzen, damit so umzugehen, dass keine strafbaren Handlungen begangen werden. Kein Ausleben auf Kosten von Kindern: keine Missbrauchsbilder und vor allem – Hände weg. Es wird behandelt und nicht verurteilt, aber klargestellt: Wenn das Triebziel doch auf Kosten von Kindern angestrebt wird, erfolgen Meldungen an die zuständigen Behörden.

Es gibt ein gestuftes, inzwischen von der Krankenkasse finanziertes Therapieangebot: Gespräche, Gruppensitzungen, Feedback. Erste Auswertungen haben positive Effekte gezeigt: So verringerten sich die Intensität des Trieberlebens und bestimmte Risikofaktoren wie eine bagatellisierende Haltung gegenüber dem Leid der kindlichen Opfer.

Das Interview führte Andrea Grunau.