Atomausstieg: Das Ende eines langen Protests

Der Wind weht eisig um das Atomkraftwerk (AKW) Brokdorf, mitten in der winterlich grauen Nordsee-Idylle von Schleswig-Holstein, zwischen feuchten Wiesen und dem leicht mit Schnee bedeckten Deich.

Eine kleine Gruppe vor allem älterer Menschen hat an das bewachte Tor des Atommeilers ein gelbes Transparent gehängt, darauf steht “Atomkraftwerke abschalten”. Die meisten von ihnen kommen aus der Gegend, einige sind aus Hamburg angereist, andere sogar von noch weiter weg. Im Kreis stehend halten sie sich mit Reden und dem Singen von Friedensliedern warm. Von der bibbernden Kälte lassen sie nicht beeindrucken, dafür sind sie schon zu lange dabei. 

Mehrere Menschen stehen bei einer Mahnwache vor dem Atomkraftwerk Brokdorf

Es ist das 425. Mal, dass Pastor Werner, Mitbegründer der Mahnwache, vor dem Tor des AKWs protestiert

Seit 35 Jahren treffen sich die Aktivisten jeden sechsten Tag des Monats zur Mahnwache am Tor des Kernkraftwerks: Sie gedenken der Opfer von Atomkatastrophen und protestieren für die Schließung des Reaktors in ihrer Nachbarschaft. Es war diesen Monat das 425. und letzte Mal, dass die Gruppe hier bei Wind und Wetter steht, denn mit dem Aus für das Atomkraftwerk endet auch die jahrzehntelange Mahnwache. 

Demonstration gegen Atomkraftwerk Brockdorf

Über Jahre wurde heftig gegen den Bau des AKWs protestiert – auch die Polizeieinsätze waren massiv

Endes des Jahres wird das AKW Brokdorf als eines der umstrittensten Kernkraftwerke in der Bundesrepublik und eines der leistungsstärksten weltweit vom Netz gehen. “Ich bin froh, dass es abgeschaltet wird und auch nicht traurig, sondern ein bisschen wehmütig, weil ich eben weiß, dass wir uns so schnell nicht wiedersehen”, so der Mitbegründer der Initiative, Pastor Hans-Günter Werner. “Es überwiegt aber schon die Erleichterung, dass das nun endlich zu Ende ist mit dem Atomkraftwerk. Wir haben damals nicht geglaubt, dass wir so lange hier stehen müssten.”

Der erste deutsche Atommeiler nach Tschernobyl

Die wachsende Anti-Atomkraftbewegung protestierte schon in den 1980er Jahren zu Hunderttausenden gegen den Bau des AKWs in Brokdorf, immer wieder kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Nach dem Atomunfall von Tschernobyl 1986 waren auch in Deutschland erhöhte Strahlenwerte im Boden und in Lebensmitteln messbar. “Ich hatte kleine Kinder, die durften nicht im Sandkasten spielen. Wir waren alle panisch”, erzählt Werner am Rande der Mahnwache.

Deutschland | Autoreinigung an DDR Grenze nach Tschernobyl Katastrophe

An der Grenze zur damaligen DDR werden 1986 Autos von möglicher radioaktiver Strahlung gereinigt

Als weltweit erste Anlage ging Brokdorf nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl Ende 1986 in den Betrieb. Pastor Werner und einige Mitstreiter protestieren damals friedlich und beschließen, auch in Zukunft weiterzumachen – einmal im Monat, solange bis Brokdorf abgeschaltet wird.

“Das hilft natürlich auch gegen die eigene Angst, eben überhaupt Widerstand zu entwickeln und dagegen zu protestieren und irgendwas zu unternehmen”, so der inzwischen pensionierte Pastor.

Erhöhtes Krebsrisiko und eine Eishalle am AKW

Seine Angst war nicht unberechtigt. 2008 stellte eine Studie fest, dass Kinder, die in der Nähe deutscher Atomreaktoren aufwachsen, ein höheres Risiko haben, an Leukämie zu erkranken.

Für die Gemeinde Brokdorf sprudelten durch den Betrieb jahrzehntelang Einnahmen durch die Gewerbesteuer. Geld, das die Politiker des Ortes in den letzten Jahrzehnten nicht ausschlagen wollten. “Es ist ein Gewerbebetrieb in unserer Gemeinde und da möchte ich dann dazu sagen, dass wir als Gemeinde unsere Gewerbebetriebe auch immer unterstützen”, so Bürgermeisterin Elke Göttsche.

Deutschland | Schleswig-Holsteins zweite Eissporthalle steht in Brokdorf

Seit ein paar Jahren haben die Einwohner von Brokdorf ein große Eishalle mit Ausblick auf das AKW

Für rund sieben Millionen Euro baute sich die 1000-Seelen-Gemeinde eine Eishalle, die Eintrittspreise des Schwimmbads mit seiner 100-Meter-Rutsche sind enorm günstig.

Bürgermeisterin Elke Göttsche war gegen die Abschaltung. Sie hätte es gut gefunden, wenn das AKW noch eine Weile länger am Netz geblieben wäre. Auch, wie sie sagt, um den Übergang zu den erneuerbaren Energien leichter zu machen. Der Geldsegen durch das AKW ist nun allerdings vorbei.

Klimafreundlich? Atomkraft international im Aufwind

Zwar werden in Deutschland bis Ende 2022 alle verbleibenden Atomkraftwerke vom Netz gehen. Länder wie Frankreich, Großbritannien, die USA, Indien, Russland und China setzen währenddessen weiter auf die Kernkraft. Weltweit befinden sich immer noch mehr als 400 Kernkraftwerke im Betrieb. Etwa 50 Kernreaktoren sind gerade im Bau, allein 18 davon in China. 300 weitere Anlagen sind in der Planungsphase.

Die Atomlobby wirbt unterdessen damit, vermeintlich saubere und vor allem klimafreundliche Energie zu produzieren. Eine Argumentation, der einige Staatschefs gerne folgen. Der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte dieses Jahr sogar an, Frankreich werde für das Erreichen der Klimaneutralität bis 2050 nach Jahrzehnten wieder neue Kernkraftwerke bauen.

Infografik Karte AKWs Frankreich DE

Zu den bisherigen Kernkraftwerken in Frankreich sollen demnächst noch viele weitere dazu kommen

Die Emissionen der Kernenergie sind zwar niedriger als die von Kohle, Öl und Gas – im Vergleich zu Strom aus Wind oder Sonne ist die Technologie allerdings viel teurer und die Bauzeit der Anlagen ist beträchtlich länger. Warum Staaten dennoch auf die Kernenergie setzen, hat noch einen ganz anderen Grund, sagt Andrew Stirling, Professor für Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik an der Universität Sussex.

Zivile Kernkraft für militärische Zwecke

 “Weltweit sind jene Länder, die sich am treuesten der zivilen Atomkraft verschrieben haben, entweder Länder, die Atomwaffen haben oder Länder, die sehr erpicht darauf sind, welche zu besitzen.” 

Die zivile Nutzung sei in vielen Fällen wegen der Umsetzung militärischer Atomprogramme nötig. Frankreich und die USA erklärten das sogar öffentlich. Ohne die Ingenieure, die speziellen Metalle, die Schweißer aus der kommerziellen Kernkraft, könne man beispielsweise kein Atom-U-Boot bauen, so Stirling. “In den USA gibt es Berichte, die absolut eindeutig sind. Selbst wenn die Kernenergie doppelt so teuer wäre, wäre es für sie dennoch sinnvoll, Reaktoren zu bauen. Denn die helfen, das militärische Engagement aufrechtzuerhalten”, so Stirling.

Matrosen stehen auf dem Atom-U-Boot Vanguard Klasse HMS Victorious vor der schottischen Küste

Für für den Bau von Atom-U-Booten, wie diesem der britischen Marine, braucht es die Infrastruktur ziviler Kernkraftwerke

Bei Kaffee, Kuchen und Kürbissuppe schauen die Aktivisten aus Brokdorf in gemeinsamer Runde gerne noch mal auf die Zeit zurück. Fotokollagen werden ausgerollt, einige haben Bilder aus ihren privaten Alben mitgebracht. 

Zwar geht Brokdorf am 31. Dezember 2021 vom Netz, das Kraftwerk wird aber noch für Jahrzehnte ein Zwischenlager für Atommüll bleiben. Denn bis heute gibt es nirgendwo auf der Welt ein Endlager für verstrahlte Abfälle. “Unser Engagement ist deshalb noch nicht zu Ende,” sagt einer der Teilnehmer.

Kurz darauf beginnt jemand, auf der Gitarre zu spielen. Singend gehen die Aktivisten an diesem Abend nach 35 Jahren Protest erstmal als Sieger vom Platz.

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“Atomwaffen und sonst nichts”