“Wenn unsere Welt in Frage steht: Antworten.” So lautet das Motto des Parteitages der Grünen. Groß prangt das Motto auf der Videowand hinter dem Rednerpult im World Conference Center Bonn direkt am Rhein. Und das stimmt ja: Vor noch nicht einmal einem Jahr sind die Grünen, zusammen mit SPD und FDP, Teil der neuen deutschen Regierung geworden, aber seit dem Krieg in der Ukraine sind fast alle Gewissheiten über den Haufen geworfen worden.
Das betrifft vor allem Robert Habeck, den grünen Wirtschafts- und Klimaschutzminister. “Nachdenkend und entschlossen”, sagt Habeck, “so führen wir Deutschland durch den Winter, so geben wir Deutschland Sicherheit.” Das sei ein “Qualitätsmerkmal” der Grünen.
Der erste Parteitag in Präsenz seit Corona: Bundesvorsitzender Omid Nouripur (r)
Aber Habeck weiß auch, dass er der eigenen Basis, den rund 800 Delegierten, jüngst viel zugemutet hat. “Wir gehen dahin, wo es weh tut”, bekennt er. “Aber wir werden niemals verwechseln, was Problem und was Lösung ist. Die fossilen Energien und die Atomkraft – sie sind das Problem.” Habecks Rede war der Höhepunkt des ersten Tages des Parteitreffens, das noch bis Sonntag geht.
Nouripour: Eine Situation “ohne Handbücher”
Die Überschrift des langen Tagesordnungspunktes zu Beginn ist: “In Zeiten fossiler Inflation: sozialen Zusammenhalt sichern, Wirtschaft stärken!” Yasmin Fahimi, die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), spricht während dieser Debatte, ebenso Siegfried Russwurm, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Dass hier beide auftreten, soll deutlich machen: Die Energiekrise, ausgelöst durch den russischen Angriff auf die Ukraine, betrifft alle, die Wirtschaft ebenso wie die Arbeitnehmer. Im Mittelpunkt aber steht Habeck.
Alle sind betroffen: Gewerkschaftschefin Yasmin Fahimi beim Grünen-Parteitag
Der Wirtschaftsminister hat aus vielen Ländern Gas als Ersatz für die russischen Lieferungen besorgt, mit nachhaltiger Energieversorgung hat das wenig zu tun. Und bereits abgestellte Kohlekraftwerke sind wieder am Netz. Rückendeckung der Basis kann er also gut gebrauchen. Omid Nouripour, einer von zwei Parteichefs der Grünen, war sich schon zu Beginn des Treffens sicher, dass er die auch bekommen wird. Er sagte der DW: “Unsere Leute im Kabinett übernehmen Verantwortung. Für die jetzige Situation gibt es keine Handbücher, sondern man muss hemdsärmelig Probleme lösen. Und das findet die Partei gut und richtig.”
Atomkraft: Thema mit Spaltpotential
Besonders brisant ist innerhalb der Regierung zur Zeit das Thema Kernenergie. Nachdem der liberale Koalitionspartner FDP in den Umfragen immer schlechter dasteht, hat Parteichef Christian Lindner den Druck auf Habeck und die Grünen massiv erhöht. Er fordert entschlossen, die drei noch am Netz befindlichen deutschen Atomkraftwerke länger laufen zu lassen – nicht, wie bislang geplant, nur bis Jahresende. Und er will auch bereits stillgelegte Kraftwerke wieder anschalten, am liebsten bis 2024. Habeck lehnt das ab, der Kampf gegen die Kernenergie ist für die Grünen seit Beginn ihrer Parteigeschichte vor gut 40 Jahren mit das wichtigste Thema.
Harter Brocken für die Basis: Protest gegen AKW-Laufzeiten vor dem World Conference Center Bonn
Der Parteitag hat sich deshalb auf eine Formulierung geeinigt, wonach ein Weiterbetrieb von zwei der Kraftwerke denkbar wäre, “für den äußersten Notfall, so unwahrscheinlich er auch sein mag”. Die beiden süddeutschen Kernkraftwerke sollten in Bereitschaft gehen und, falls nötig, bis zum Frühjahr genutzt werden. Doch in der Debatte beim Parteitag wurde auch klar: Schon das geht vielen Grünen zu weit. Die Kritiker wissen allerdings auch: Habeck jetzt in den Rücken zu fallen, würde die grünen Regierungsmitglieder schwer beschädigen.
Am Samstag stehen der Krieg in der Ukraine und damit die grüne Außenministerin Annalena Baerbock im Mittelpunkt. Noch so ein Thema, das zeigt, dass in wenigen Monaten viele Grundsätze über Bord geworfen wurden. Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet – das haben die Grünen jahrzehntelang strikt abgelehnt. Kaum etwas ist noch wie früher.