Der Winter hat das ukrainische Energiesystem auf eine harte Probe gestellt. Seit Beginn der kalten Jahreszeit hat die russische Armee 15 massive Raketenangriffe und 18 Drohnenangriffe auf Energieanlagen in der Ukraine durchgeführt. Die Angriffe zielten darauf ab, das Energiesystem aus dem Gleichgewicht zu bringen, und so die Bevölkerung der Dunkelheit und Kälte auszuliefern.
Wie das Energieministerium in Kiew der DW mitteilte, wurden mehr als 50 Prozent der ukrainischen Energieinfrastruktur beschädigt. Dies betrifft sowohl die Erzeugung als auch den Transport von Strom. Die größten Schäden liegen im Bereich der Wärmeerzeugung. Buchstäblich jedes Heizkraftwerk wurde getroffen.
“Alle großen Wärme- und Wasserkraftwerke wurden durch russischen Beschuss beschädigt”, sagt der Leiter des staatlichen ukrainischen Energieversorger “Ukrenerho”, Wolodymyr Kudryzkyj.
Fast alle wichtigen Umspannwerke seien mindestens drei bis vier Mal angegriffen worden. “Wir haben Objekte, die sechs Mal getroffen wurden, und einige sogar 20 Mal”, ergänzt er.
Dennoch sei die Stromversorgung weiter aufrecht erhalten worden. Kudryzkyj zufolge gibt es seit Mitte Februar keine Ausfälle mehr, das System funktioniere ohne Einschränkungen.
Löscharbeiten nach einem Angriff auf ein Wärmekraftwerk
Schnelle Reparaturen
Die Resilienz des ukrainischen Stromnetzes erklärt sich durch mehrere Faktoren. Laut “Ukrenerho” würden beschädigte Leitungen schnell wieder instand gesetzt, oft unter Lebensgefahr des Fachpersonals.
Von großer Bedeutung sei auch der Schutz des ukrainischen Luftraums durch Luftabwehrsysteme. Außerdem hätte der staatliche Stromversorger zusammen mit den Netzbetreibern neue Methoden entwickelt, um auf Angriffe russischer Raketen und Drohnen zu reagieren.
“Eine Methode besteht darin, das Energiesystem in der Zeit vor den Angriffen zu entlasten und dadurch dessen Integrität zu bewahren”, erklärt Wolodymyr Omeltschenko, Direktor für Energieprogramme am Rasumkow-Forschungszentrum. Das Zentrum in Kiew ist eine nichtstaatliche Denkfabrik und forscht seit 1994 zu Wirtschaft und Politik.
Laut Omeltschenko ermögliche das Entladen, also das Aussetzen des Betriebs einzelner Kraftwerksblöcke vor möglichen Raketenangriffen, den Schaden am Energiesystem durch ihre Zerstörung zu minimieren und infolgedessen verlorene Energie schneller wiederherzustellen.
Das Energieministerium weist auch auf eine Reihe technischer Lösungen hin, die es ermöglichen, die Situation zu stabilisieren. Details werden allerdings nicht bekannt gegeben. “Diese Methoden sind, sagen wir mal, keine klassischen technischen Lösungen nach den etablierten Standards, aber sie funktionieren, und dank dessen hält alles”, erklärte der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko gegenüber der DW.
Atomare Erzeugung und Import
Darüber hinaus wurde die Reparatur an einem Block des ukrainischen AKW Riwne abgeschlossen. Der zweite Block dieses Werks, das 2022 mit der Hälfte seiner Kapazität betrieben wurde, wird zudem wieder vollständig betrieben. Damit sind nun alle neun verfügbaren Atomblöcke in Betrieb, wodurch die Ausfälle des von russischen Truppen besetzten AKW Saporischschja reduziert werden konnten.
Europas größtes Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine
Hilfe kam auch vom Europäischen Verband der Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E. Dank kontinuierlicher Stromflüsse sei das ukrainische Energiesystem im Gleichgewicht geblieben, erläutert Wolodymyr Kudryzkyj.
Durch diese Synchronisierung konnte “Ukrenerho” häufige größere Blackouts während der Angriffe vermeiden. Stromimporte aus EU-Ländern im Januar und Anfang Februar dieses Jahres garantierten zudem die Versorgung der ukrainischen Industrie.
Auch das Wetter spielte mit. “Die Natur ist auf unserer Seite. In diesem Winter haben wir ungewöhnlich viel Tauwasser in den Flüssen Dnipro, Sosch, Desna und Pripjat. So etwas kommt nur alle 20 bis 30 Jahre vor. Das hilft uns sehr, und die Wasserwerke liefern jetzt viel Strom”, so der Generaldirektor des ukrainischen Wasserkraftwerks-Betreibers “Ukrhydroenergo”, Ihor Syrota, im Gespräch mit der DW.
Erfahrungsaustausch mit Südkorea
Unterdessen suchen ukrainische Energieversorger weiter nach Möglichkeiten, die am stärksten gefährdeten Anlagen und Netze zu sichern. So informierten sich ukrainische Ingenieure bei einem Erfahrungsaustausch mit Südkorea, wie man Energieanlagen so weit wie möglich unter die Erde verlegen kann, um sie vor Raketeneinschlägen zu schützen.
“Ich bin nach Südkorea gefahren, weil sie dort auch so einen ‘guten’ Nachbarn haben”, sagt Ihor Syrota, Generaldirektor von “Ukrhydroenergo”. “Dort haben wir gesehen, wie Geräte und Transformatoren unter der Erde oder in Felsen versteckt sind. Auch wir werden zu solchen Lösungen greifen.”
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk