Melissa Vertiz hat das Unglück irgendwie kommen sehen, denn es ist nicht das erste Mal, und es kam mit Ansage. Die Aktivistin arbeitet für das Netzwerk “Grupo de Trabajo sobre Política Migratoria”, ein Zusammenschluss von mexikanischen Organisationen, die sich für die Rechte von Geflüchteten stark machen.
Vor drei Jahren, sagt sie der DW, habe es eine ähnliche Situation im Flüchtlingsheim von Tenosique im südlichen Bundesstaat Tabasco gegeben: “2020 hat dort auch ein Asylbewerber Feuer gelegt, um auf die mangelhaften Informationen und die Bedingungen aufmerksam zu machen. Natürlich sind wir alle jetzt sehr bestürzt und wütend.”
Empört sind sie vor allem darüber, dass das Wachpersonal der Flüchtlingsunterkunft von Ciudad Juárez dem Sterben von 38 Migranten aus Guatemala, Honduras, El Salvador, Venezuela, Kolumbien und Ecuador tatenlos zusah. Auf dem 32-sekündigen Video einer Überwachungskamera ist festgehalten, wie Geflüchtete in einem abgeschlossenen Raum Matratzen in Brand stecken. Beamte, die das Geschehen beobachten, laufen in ein Nebenzimmer, statt die Tür angesichts des sich ausbreitenden Feuers aufzuschließen.
Ein Video zeigt, wie das Sicherheitspersonal die eingesperrten Migranten mit dem Feuer alleine lässt
Der mexikanische Innenminister Adán López hat die Authentizität des Videos bestätigt, die Generalstaatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen die Einwanderungsbehörde aufgenommen.
Welche Verantwortung trägt Präsident López Obrador?
Doch wie kann es sein, dass die Migrantinnen und Migranten ein Feuer legen und sich in eine derartige Gefahr begeben? Vertiz kennt viele der Menschen, die sich aus Venezuela, Mittelamerika oder Haiti auf den Weg Richtung USA machen und am Ende in solchen Unterkünften landen.
“Sie sind verzweifelt, weil sie keine Informationen bekommen, weil diese Haftanstalten Orte des Todes und der Folter sind. Die Regierung und die Einwanderungsbehörde bestrafen auf diese Weise Menschen, die keine Einwanderungsdokumente besitzen.”
Venezolanische Migranten protestieren vor dem Gebäude der Einwanderungsbehörde in Ciudad Juárez
Hauptverantwortlicher für das Unglück ist für Vertiz die mexikanische Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador. Dieser forderte in einer Pressekonferenz die lückenlose Aufklärung der Geschehnisse: “Die Staatsanwaltschaft wird ihre Nachforschungen fortsetzen, um die Verantwortlichen dieser schmerzhaften Tragödie zu finden und zu bestrafen. Es wird keine Straflosigkeit geben.” Die Aktivistin kritisiert indes: “Der Präsident wiederholt mit seiner rigiden Migrationspolitik die Fehler der Vorgängerregierungen.”
Tote und Verschwundene an der Grenze
Anruf bei Maureen Meyer. Sie arbeitet bei der kirchennahen Nichtregierungsorganisation “Washington Office on Latin America”, kurz WOLA, und nimmt für den Think Tank Gewalt, Korruption und Menschenrechtsverletzungen in Mexiko unter die Lupe.
Ihr Urteil fällt ähnlich aus: “Die Flüchtlingsunterkünfte sind im Grunde genommen Gefängnisse, es gibt Vorhängeschlösser, und die Menschen können nicht raus.” Meyer fordert, dass die Notfallpläne in diesen Unterkünften auf den neuesten Stand gebracht werden.
Dutzende Verletzte und Tote sind die Folge des verheerenden Brandes in einer Flüchtlingsunterkunft in Ciudad Juárez
Die Internationale Organisation für Migration, kurz IOM, hat seit 2014 insgesamt 7.661 Menschen registriert, die auf dem Weg in die Vereinigten Staaten entweder ums Leben gekommen oder verschwunden sind. 128.000 Migranten wurden allein im Januar von US-Behörden festgenommen, nachdem sie versucht hatten, illegal in die USA zu gelangen.
Viele von ihnen stranden dann in Ciudad Juárez, der Millionenstadt am Río Grande mit Blick auf die texanische Großstadt El Paso. Natürlich liege die Hauptverantwortung für die 38 Toten bei der mexikanischen Regierung, sagt Maureen Meyer, doch auch die USA könne man wegen ihrer Migrationspolitik nicht aus der Pflicht nehmen. Diese trage zu solchen Unglücken bei, weil sie es diesen Menschen fast unmöglich mache, in den USA Schutz zu suchen.
Umstrittene App zur Beantragung von Asyl in den USA
Bestes Beispiel sei die Handy-App, die von der Biden-Regierung entwickelt wurde. Seit Januar können Migranten damit einen Termin in den grenznahen Einwanderungsbehörden beantragen. Theoretisch. Maureen Meyer hat nachgezählt: An der gesamten 3.145 Kilometer langen Grenze gibt es täglich lediglich 740 Termine.
Dies reiche bei weitem nicht aus, um die große Zahl von Antragstellern zu bewältigen. “Die Termine sind jeden Morgen innerhalb von zwei Minuten vergeben”, so Meyer. Viele, vermutlich die meisten, gingen also leer aus. Hinzu komme: Jeder Termin gilt nur für eine Person, auch Familien brauchen für jedes Mitglied einen eigenen Termin.